Lesen Rezensenten ihre Bücher überhaupt?

Die Frage jedenfalls stellt sich mir, wenn ich in der Berliner Zeitung lesen kann, dass Grass‘ neues Buch schon Wochen vor dem Skandal eine 300 Journalisten geschickt wurde:

Zu diesem Zeitpunkt allerdings hatten bereits mehr als 300 Rezensenten den Roman seit Wochen vor sich liegen. Gelesen hatte jedoch kaum einer den neuen Grass, als die im Hause Schirrmacher inszenierte Bekenntnisbombe abgefeuert wurde. Schließlich sollte das Buch erst zum 1. September im Handel sein und Rezensionen unterlagen einer bis dahin geltenden Sperrfrist. Und keiner der jetzt düpierten Rezensenten und Kritiker hatte wohl den neuen Grass mit so viel Spannung erwartet, dass er ihm vor allen anderen Neuerscheinungen des Literaturherbstes absolute Priorität einräumte. Und die, die es taten, haben die Brisanz der Waffen-SS-Stelle offenbar nicht erkannt.

Von 300 (!) Journalisten hat keiner das Buch so gelesen und dann verstanden, dass Grass darin seine SS-Vergangenheit offenlegt? Kann ich kaum glauben. Die Sperrfrist hätte ja nicht verhindert (oder etwa doch?), dass man aus historischen Dokumenten seine Vergangenheit hervorkramt und dann veröffentlicht.

Wenn man soviele Feuilletonisten hat, die ein Buch erstmal Buch sein ließen, dann ist es auch klar, warum die FAZ, die Grass‘ Vergangenheit schon seit April kannte, es so leicht hatte, daraus einen Coup zu machen.

Der Spindoktor analysiert die Kampagne, zu der sich die FAZ offenbar freiwillig hat einspannen lassen und zieht das Fazit:

Da zeigt der Saubermann-Feuillton- und Kulturbetrieb seine wahre Fratze: Spinning im Kulturbetrieb sorgt seit Jahren für Selbstvermarktung. So also verdienen alle: die FAZ steigert morgen vermutlich ihre Auflage kräftig, Wickert kann behaupten, er mache eine tolle, neue Sendung, Grass und dessen Verlag verdienen wieder einmal prächtig.
Das alles muss einen nicht stören, allerdings ist es in diesem Fall weder inhaltlich noch von der Person her würdig, eher despektierlich. So verabschieden wir uns an dieser Stelle von Grass und suchen uns einen neuen, glaubhaften Moralisten.

Grass‘ Rolle in dem Spielchen ist mir noch nicht ganz klar. Ich traue ihm zwar zu, dass ihm ein Hype um sein neues Buch und daraus resultierende Verkaufszahlen ganz recht sind, aber dass er sich an Stillhalteklauseln o.ä. hält, sieht ihm nicht ähnlich. So würde ich ihn nicht einschätzen. Er mag sich aber vielleicht gesagt haben, die übrigen 300 Journalisten, die das Buch schon den ganzen Sommer über haben, hatten genug Zeit, hinter sein kleines Geheimnis zu kommen. Weil sie es nicht sind, hat er dann der FAZ ein Interview gegeben, in dem er im Grunde nur mit dem raus kommt, was schon seit Monaten für wenige hundert Schreiberlinge zu lesen war. Die FAZ hatte riesiges Glück, dass keiner die Tragweite von Grass‘ neuem Buch erkannt hatte.

Der Coup liegt auf Seiten der FAZ, die es geschafft hat, dass nirgendwo sonst Grass‘ Vergangenheit bekannt war und sein Geständnis deshalb exklusiv dort abgedruckt werden konnte. Der Medienrummel, der anschließend folgte, wäre sowieso gekommen, davon bin ich überzeugt. Zu groß war die Überraschung, dass Grass in den letzten Kriegsmonaten bei der SS war und es bis heute verschwieg. Für den Steidl-Verlag hätte es so und so gute Werbung für das Buch gegeben. Es sieht allerdings so aus, als habe Grass mit dem Interview den Stein ins Rollen gebracht und es dadurch für die FAZ zu einer self-full-filling prophecy gemacht. Und irgendwie steht er dabei doof da.

Ein Gedanke zu „Lesen Rezensenten ihre Bücher überhaupt?

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