Archiv für den Monat: Juni 2009

Tauss tritt aus der SPD aus und will in die Piratenpartei eintreten

Wow, das ist mal nen konsequenter Schritt: Jörg Tauss ist heute aus der SPD ausgetreten und unterstützt fortan die Piratenpartei.

Anlass, aber nicht der Grund, ist die Verabschiedung des Gesetzes für Netzsperren:

Das Abstimmungsverhalten der SPD- Bundestagsfraktion beim sogenannten „Zugangserschwerungsgesetz“ ist für mich nur der letzte Beleg dafür, dass heute weder Internetexperten noch Bürgerrechtler ausreichendes Gehör im Parlament finden. Opposition gegen immer neue Beschränkungen von Freiheit wird in Deutschland inzwischen marginalisiert, in meinem Fall sogar beinahe als kriminell erachtet.

Nachtrag: Es gibt ein Interview mit Jörg Tauss zu seinem Wechsel von der SPD zur Piratenpartei. Außerdem gibt es eine Presseerklärung der Piratenpartei zum Eintritt von Jörg Tauss, in der auch die Ermittlungen wegen des Verdachts auf Besitz von Kinderpornografie angesprochen werden: Solange nichts erwiesen ist, gilt die Unschuldsvermutung. In der SPD hat man das ja in der letzten Zeit offenbar ein wenig anders gesehen (Rücktritt aus allen Ämtern, Verzicht auf Bundestagskandidatur).
Hoffentlich ist an der Sache wirklich nichts dran und Tauss war nur naiv und übereifrig. Ansonsten kann ich mir die Schlagzeile schon ausmalen.

[via: Frank Helmschrott]

Erweckung

Etwas gutes hat die Netzsperrendiskussion ja auch: von mangelnder Relevanz von Blogs redet wohl zur Zeit niemand. Oder von einem Blogherbst bzw. Blogblues. Die knapp 135.000 Stimmen für die bisher erfolgreichste ePetition wäre ohne Blogosphäre (und auch Twitter) nie zustande gekommen, der kleine Achtungserfolg der Piratenpartei bei der Europawahl mit knapp 230.000 Stimmen – ohne Blogs und Twitter undenkbar. Und überhaupt hätte es ohne Blogs keine argumentative Auseinandersetzung in diesem Ausmaße über die Netzsperren gegeben. Erst nach und nach sind die klassischen Medien aufgesprungen und haben die gebloggten Argumente aufgenommen. Die Entschärfung des Zensursula-Gesetzes ist sicher auch auf die massive Kritik aus dem Internet zurückzuführen.

Angefangen hat es damals mit dem Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung. Wer darüber mehr wissen wollte, musste Blogs lesen. Wenn die Menschen das Gefühl haben, dass die herkömmlichen Medien falsch, unausgewogen oder gar nicht über bestimmte Themen berichten, dann suchen sich diese Menschen eben andere Verbreitungswege. Das war damals beim nach 9/11 und beim Irakkrieg in den USA so, das ist heute bei Datenschutz-, Bürgerrechts- und Netzthemen in Deutschland der Fall. Dort drüben sind Blogs und Social Networks bereits eine relevante Größe, an der man nicht mehr vorbeikommt. Spätestens seit dem Wahlkampf von Obama ist das auch hier sichtbar.

Ich bin zuversichtlich, dass eine ähnlich einflussreiche Netzgemeinde in Deutschland auch möglich ist, es ist bereits jetzt eine beispiellose Politisierung zu erkennen. Die kommende Bundestagswahl wird das wahrscheinlich noch nicht signifikant beeinflussen, aber die Zeit wird kommen.

Die Netzsperren und die Unfähigkeit zur Kursumkehr

Der Rubikon wurde überschritten: das Netzsperrengesetz ist da .

Die SPD konnte bzw. wollte das Gesetz nicht verhindern. Nun kloppt alles auf die SPD ein. Aber immerhin wurde das Gesetz durch die SPD entschärft. Darauf weist John Dean hin :

Johnny sagt Tschüss zur SPD, weil diese entscheidende Punkte (siehe Heise-Artikel) der Protestbewegung in die Verhandlungen eingebracht hatte und erfolgreich durchgesetzt hat. Darunter:

– keine Strafbarkeit [der Klicks auf das Stoppschild]
– keine Anwendung über KiPo hinaus
– Befristung des Gesetzes auf 3 Jahre
– Einbindung des Datenschutzbeauftragten
– Bevorzugung von Löschen statt Sperren

Im Prinzip hat er damit recht, das Gesetz wurde entschärft. Nur wurde es dadurch nicht besser. Die Kategorie der Verbesserung gibt es bei diesem Gesetz nicht. Es ist nutzlos und dient nicht dem vorgebenen Zweck der Bekämpfung von KiPo, es ist und bleibt überflüssig und nicht zielführend.

Nutzloses kann man nicht verbessern

Ich lasse mich mal kurz auf Diskussion um eine Entschärfung ein: ob diese Argumente wirklich so stichhaltig sind, ist fraglich .

Die Befristung ist immerhin etwas. Vor dem Auslaufen gibt es eine Evaluierung. Klingt gut, ist es aber nicht. Gerade diese Evaluierung bietet die Möglichkeit, aufgeblasene Zahlen von Zugriffen auf die Stoppseiten zu präsentieren, um das dann als Erfolg des Gesetzes zu verkaufen („Jeder Klick ein Kinderschänder.“). Die ahnungslose Presse schreibt es dann auf. Schwupp, hat man Pseudoargumente für das Gesetz. An ein Auslaufen des Gesetzes mag ich nicht glauben.

Auch die Bevorzugung des Prinzips „Löschen vor Sperren“ liest sich erstmal gut. Es ist aber wohl eher ein Gummiparagraph, der vom BKA nach eigenem Gusto ausgelegt werden kann. Das BKA selbst entscheidet, wann es eine Löschung versucht und wann sie es beim Sperren belässt.

Das 5-köpfige Gremium beim Datenschutzbeauftragten kann jederzeit auf die Sperrliste zugreifen und soll quartalsweise stichprobenartig die Liste kontrollieren. Stößt man dabei auf eine fälschlicherweise gesperrte Domain, so wird diese dann entfernt.
Würde man die Überwachung der Sperrliste ernst nehmen, würde man die gesamte Liste oder zumindest die Neueinträge sofort (von Richtern) prüfen lassen.

Aber zurück zum Grundsätzlichen: Warum hält man seitens der SPD überhaupt an diesem Gesetz fest? Alle Fachleute sagen, dass es einerseits rechtlich bedenklich und andererseits nutzlos ist. Auch der ein oder andere aus den eigenen Reihen warnt vor dem Gesetz. Die Bundesregierung bzw. das Familienministerium ist in zentralen Punkten ahnungslos . Jedem, der noch klar bei Verstand ist, sollte also einleuchten, dass es keinen vernünftigen Grund gibt, dieses Gesetz überhaupt zu machen. Keinem Kind wird damit geholfen, es ist nutzlos .

Kursumkehr unmöglich

Offenbar gibt es keine Möglichkeit der Kursumkehr, wenn so ein Gesetz erstmal auf dem Weg ist. Sich hinzustellen und einzugestehen, dass man auf dem Holzweg ist, dass man sich hat überzeugen lassen, dass diese Netzsperren der falsche Weg sind, kommt offenbar nicht in Frage. Da kackt man lieber auf Vernunft und Sachverstand statt zwei Minister (Zypries und Zensursula) mal für eine Weile dumm dastehen zu lassen. Nein, statt das Gesetz aufzugeben, doktort man hilflos am Gesetz herum, in der Hoffnung, damit das Schlimmste zu verhindern und einen „Kompromiss“ zu finden. So wie sonst auch. Man kommt offenbar aus diesen üblichen Ritualen des Politikbetriebs nicht heraus. Niemand zieht die Reißleine, die Notbremse.

Stattdessen wird das Gesetz im Eiltempo durchs Parlament gepeitscht, die bisher größte ePetition, die Meinung von über 130.000 Bürgern wird ignoriert. 45 min Aussprachezeit gab es, kein Minister war anwesend, die Drucksache weist noch einen veralteten Entwurf aus, der noch nicht die Eigenständigkeit und die Änderungen am Gesetz beinhaltet. (Kleine Widerlichkeit am Rande: Jörg Tauss wird vom eigenen Fraktionskollegen die Zwischenfrage verweigert (MdB Dörrmann: „von jedem anderen ja, aber nicht von Kollege Tauss“). Wer solche Kollegen hat, braucht keine Feinde mehr.)

Jetzt haben wir also das Netzsperren-Gesetz, das eine Zensurinfrastruktur aufbaut. Man muss nicht paranoid sein, um zu befürchten, dass das erst der Anfang ist. Muss wohl wieder Karlsruhe ran. Aber das kann ja auch nicht die Lösung sein.

Nachtrag: Die Liste der namentlichen Abstimmung ist draußen. Von der CDU hat einer mit Nein gestimmt, bei der SPD gab es nur 3 Neinstimmen und 3 Enthaltungen. Bei den Grünen gab es für mich überraschende 15 Enthaltungen (bei 48 anwesenden MdBs). Was wollen diese Abgeordneten mir damit sagen?

Zunehmende Politisierung in den Blogs

Mir kommt es gerade (also so seit etwa ein paar Wochen) so vor, als wenn es sowas wie eine politische Begeisterung, eine politische Aufbruchsstimmung, mindestens aber eine stärkere Politisierung von Blogs gibt. Ich weiß nicht, wie ich das nennen soll, aber soviel politisches Nachdenken und Schreiben in den deutschen Blogs war selten noch nie, oder?

Der Auslöser ist wohl wirklich „Zensursula“ von der Leyens Netzsperrengesetz. Danach gab es zahlreiche gute Artikel um das Thema Generationenkonflikt bzw. die digitale Spaltung. Dann gab es zahlreiche Antworten auf Soboczynskis Aufsatz in der Zeit, der jedes Netzverständnis vermissen ließ.
Erst ein paar Tage alt ist der Fall Ruhrbarone vs. Silvana Koch-Mehrin und ihre Parlamentspräsenz, seltsame Rechenoperation und juristisches Spiegelfechten.

Und gestern bzw. heute, am Europawahlwochenende, kann ich Wahlaufrufe und Wahlempfehlungen lesen, Gedanken darüber, ob die Piratenpartei die neue SPD ist und warum man nicht nur das kleinere Übel wählen sollte, sondern eine echte Alternative, wenn es sie denn schon gibt.

Deutsche Blogs waren imho nie so unpolitisch, wie immer behauptet und geschrieben wurde, aber zur Zeit wird diese Politisierung in meinen Augen besonders deutlich. Diese Politisierung betrifft nicht nur die größeren Blogs (aka Alphablogger), sondern das geht quer durch die gesamten Blogs. Das finde ich richtig gut.

Hysterie um RTLs „Erwachsen auf Probe“ – und wie es auch anders geht

Heute morgen im Deutschlandfunk sprach Andreas Stopp, verantwortlicher Medienredakteur des Radiosenders, über das Dilemma in der Berichterstattung über die Sendung „Erwachsen auf Probe“ von RTL: Würde man über die Sendung berichten, würde man der PR des Fernsehsenders in die Hände spielen; würde man hingegen nicht berichten, käme man dem Informationsauftrag nicht nach.

Hmm, klingt nach einem wirklichen Dilemma. Ist es aber gar nicht. Man (= Journalist) könnte nämlich einerseits die Heucheleien des Senders und die Dramaturgie der Sendung beleuchten, um dann dabei möglicherweise festzustellen, dass alles halb so wild ist. Andererseits könnte man dabei auf Hysterie verzichten, um eben gerade nicht das Format spannender erscheinen zu lassen, als es in Wirklichkeit ist und wie es der PR von RTL gut in den Kram passt.

Geht nicht? Doch, geht. Stefan Niggemeier hat zwei lesenswerte, informative aber vollkommen unaufgeregte Beiträge zu „Erwachsen auf Probe“ geschrieben. Die Babys waren nie allein, die Mütter immer in unmittelbarer Nähe, die Kinder haben keinen offenkundigen Schaden erlitten, die Protagonisten werden nicht lächerlich gemacht … und RTL will mit dem Format nicht die Welt retten sondern Geld verdienen. Also nichts, was die Hysterie rechtfertigen würde.

Dabei gäbe es im Zusammenhang mit solchen Sendungen durchaus Diskussionsbedarf, jenseits von Geschmacks- oder Moralfragen:

Manche halten die Aufregung um „Erwachsen auf Probe“ für den Anfang einer überfälligen Debatte über die Werte und Grenzen des Fernsehens heute. Aber dafür müsste man schon das taube Festhalten an der eigenen Position bei kontinuierlicher Steigerung der Lautstärke mit einer solchen Debatte verwechseln.

Die Diskussion, ob eine solche Sendung ausgestrahlt werden darf oder verboten werden muss, verhindert die Frage, in welcher Form sich das Fernsehen brisanten Themen und der Lebenswirklichkeit widmen sollte und wie es seiner Verantwortung gegenüber den Protagonisten gerecht wird. Das wären Fragen, die nicht nur angesichts der Explosion von billigsten und höchst zweifelhaften Reality-Formaten im Tagesprogramm der Sender notwendig und brisant wären.

Von dem Geschrei über die Produktion von „Erwachsen auf Probe“ bleibt, nüchtern betrachtet, vor allem eine sehr berechtigte Forderung: die Mitwirkung von Kindern bei Reality-Formaten zu regeln. Bislang gibt es nur Vorschriften für Dreharbeiten mit Kindern als Schauspielern. Sinnvoll wäre zum Beispiel die Pflicht, dass ein fachkundiger Betreuer vor Ort ist, der ausschließlich den Interessen der Kinder verpflichtet ist und nicht denen der Produktion. Eine solche, vom Jugendamt vermittelte Aufsicht könnte auch dann einschreiten, wenn die Eltern der Protagonisten sich vielleicht nicht trauen. Und er könnte, wenn – wie im Fall von „Erwachsen auf Probe“ – umstritten ist, welche Bedingungen tatsächlich vor Ort herrschten, für Klarheit sorgen.

Könnten wir bitte darüber reden, wie wir das organisieren?

Ah, können wir nicht.

Der Deutschlandfunk hat nach dem Gespräch mit Andreas Stopp eine kleine Reportage im Programm gehabt, in der es um minderjährige Mütter und ihre Probleme geht und wie der Staat ihnen hilft. Jenseits von RTL und Dramaturgie. So geht’s eben auch.

Nachtrag, nachdem ich die Sendung gesehen habe: Viel Lärm um nichts. Die Sendung ist keinen Skandal wert, man kann sie mögen oder auch nicht. Alles ist gemacht im Stil von Super-Nanny, Schuldnerberater Zwegat und „Teenager außer Kontrolle“. Auch der Sprecher ist der gleiche. Aber die Kessler nervt.