Archiv der Kategorie: nachdenkliches

Diskussion: Aber bitte mit Fakten

Kürzlich schrieb ich darüber, dass Natur- und Geisteswissenschaftler unterschiedliche Vorstellungen von „unverhandelbar“ haben. Meine These war, dass ein guter Teil der Missverständnisse innerhalb von Diskussionen darauf beruhen, wie eben aktuell zur Corona-Situation. Zu besichtigen ist das derzeit in der missglückten Aktion #allesdichtmachen, die die Maßnahmen zur Pandemieeindämmung grundsätzlich und eher pauschal kritisiert. Pauschal im Sinne von: wir stellen nicht einzelne Maßnahmen in Frage sondern stellen die Regeln einmal grundsätzlich in Frage. Um dann hinterher zu sagen, dass es schön ist, dass überhaupt wieder mehr diskutiert wird. Als wäre Diskussion per se ein Gewinn.
In eine ähnliche Richtung, wenn auch deutlich moderater im Ton, geht das Manifest „Für die offene Gesellschaft“. Auch hier wird verlangt, wir müssen wieder mehr diskutieren. Können wir gern, bei naturwissenschaftlichen Themen – und das ist eine Pandemie dem Grunde nach nun mal – auf der Basis von naturwissenschaftlichen Fakten. Ich kann mir auf dem Papier auch ein Wunschhaus zeichnen, wenn der Statiker aber sagt, das geht nicht, dann hilft auch alles diskutieren nicht. Bezeichnenderweise ist unter den Verfasser*innen des Manifests nur ein (früherer) Naturwissenschaftler vertreten.

Ja, ich finde auch die Erregung, das Hyperventilieren nicht nur in der Corona-Diskussion unerträglich. Dass es nur darum zu gehen scheint, laut zu sein, zu diffamieren, jemanden in eine Ecke zu stellen, statt sich inhaltlich mit dem Gesagten/Geschriebenen auseinanderzusetzen. Verwünschungen und (Mord-)Drohungen gehen gar nicht und das sollte demokratischer Konsens sein.

Aber warum schreibe ich das alles? Weil Mitverfasserin Ulrike Guérot dem Deutschlandfunk ein Interview (MP3) gegeben hat, im dem sie u.a. die Aktion #allesdichtmachen … nunja … eher verteidigt. Das an sich ist – siehe oben – völlig okay. Nicht okay ist allerdings ihre Argumentation.

Zunächst geht es darum, dass Frau Guérot eine „homogenisierte Medienlandschaft“ (Minute 5:51) beobachtet. Darüber wundert sie sich:

[…] Dann müssten wir uns fragen, warum ist diesmal die zementierte Meinung so stark. Das ist ja ungewöhnlich. Wir haben ja in allen Situationen der Bundesrepublik, ganz egal ob NATO-Doppelvertrag oder Ostverhandlungen. Wir hatten doch nie geschlossene Meinungsdecken von 70, 80%. Das ist doch eher unüblich. Und wenn das unüblich ist für eine Demokratie, dann ist doch die Frage, warum ist diese geschlossene Meinungsdecke bei Corona so hoch. Und wenn sie so hoch ist, ist die Frage, ist das vernünftig, dass sie so hoch ist oder ist sie panik-, angst- und hysteriegetrieben, wofür es ja Argumente gibt. […]

DLF-Interview, ab 7:00

Panik, Angst, Hysterie – ja, das muss der Grund sein. Einsicht auf der Grundlage von Fakten? Nein, das kann nicht sein. 2 + 3 = 5, darüber wird es sogar eine fast 100%ige Zustimmung geben. NATO-Doppelbeschluss und Ostverhandlungen waren originär politische Themen, da gab es kein faktenbasiertes Richtig oder Falsch. Je nach Sichtweise war der Russe böse oder die Amis nicht besser. Je nach Sichtweise war Abschreckung das richtige Mittel oder Abrüstung. Ansichtssache. Was mich wieder zur These zurückbringt, dass zwischen politik- und faktenbasierten Diskussionen nicht unterschieden wird.

Machen wir weiter im Interview.

Das Präventions-Paradox

[…] Vor einem Jahr, die Bilder aus Bergamo, die man übrigens auch mal dekonstruieren müsste. Wir sind ja über ein Jahr nach den Bildern aus Bergamo immer noch bei den Bildern aus Bergamo. Wobei sich nach einem Jahr hier in Deutschland keine Bilder aus Bergamo ergeben haben. Also das ist ja auch Teil des Problems. […]

DLF-Interview, ab ungefähr 9:35

Bergamo. Die Chiffre für Leichenberge zu Beginn der Corona-Pandemie in Italien. Der erste deutliche Fingerzeit, dass das, was da kommt, mehr als eine Grippe-Welle ist. Damals, im Februar 2020. Bevor es einen Lockdown und alle anderen Maßnahmen (Abstand, Maske, Kontaktbeschränkungen) gab. Gerade wegen dieser Maßnahmen gab es keine Bilder wie in Bergamo. Der Begriff des Präventions-Paradoxons sollte denjenigen, die sich öffentlich zu Corona äußern inzwischen geläufig sein. Eigentlich und präziser: die selbstzerstörende Prophezeiung. Es wird eine (wissenschaftliche) Prognose erstellt, die lautet: unter Bedingung A tritt als Folge B ein. Beispiel: wenn wir weiter Schwefeldioxid in die Luft pusten, stirbt der Wald. Wenn wir weiter FCKW in die Atmosphäre entlassen, löst sich die Ozonschicht auf. Wenn so weiter machen wie bisher, hat das Virus freie Bahn und die Leichensäcke liegen bald vor den Kliniken auf der Straße.

Jetzt begannen die Maßnahmen: Rauchgasentschwefelungsanlagen wurden eingebaut, FCKW in Kühlschränken wurde verboten und, ja, die AHA-Regeln und der Lockdown kamen. Der Wald starb nun doch nicht, die Ozonschicht ist immer noch da und die Intensivstationen waren nicht überfüllt. War alles nur Panikmache? Natürlich nicht. Die Bedingung A hat sich geändert. Und Prognosen sind nur unter Bedingungen aussagekräftig. Wenn sich die Bedingungen ändern, ändern sich auch die Folgen und es sieht hinterher so aus, als sei die Vorhersage apokalyptisch aufgebauscht worden.

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Die Taz und ihre Polizisten-Müll-Kolumne: zweierlei Maß

Eigentlich ist zum Text von Hengameh Yaghoobifarah in der Taz „All cops are berufsunfähig“ alles gesagt. Inhalt kurz und nur leicht überspitzt zusammenfasst: Polizisten sind Faschos und gehören deshalb auf den Müll. Die Kritik daran – die ich teile -: der Text ist menschenverachtend.
Den vielleicht besten Kommentar dazu schreibt Thomas Fischer in seine Kolumne bei Spiegel Online.

Überrascht war ich allerdings, wer den Text und besonders mit welchen Argumenten verteidigt. Nehmen wir nur mal exemplarisch Margarete Stokowski mit ihrem Kolumnen-Text, ebenfalls bei Spiegel Online (nebenbei bemerkt: ein schönes Beispiel für Meinungsvielfalt auf einem Nachrichtenportal!)

Argument 1: In der Polizei gibt es wirklich üble Leute, die Minderheiten gleich welcher Art schlecht behandeln. Und das alles sind keine Einzelfälle!
Argument 2: Das war doch bloß Satire. Wer das nicht erkennen kann ist blöd oder böswillig!
Argument 3: Innenminister Seehofer gefährdet mit seinem Nachdenken über eine Anzeige die Pressefreiheit. Und das geht nun gar nicht!

Fangen wir mit Argument 3 an. Die Anzeige war tatsächlich ein Fehler von Seehofer. Mittlerweile hat er das auch eingesehen und sie nicht erstattet. Warum das von Anfang eine Schnapsidee war – siehe Fischers Kolumne.

Weiter mit Argument 2 – war ja bloß Satire. Das ist doch die Paradeentschuldigung vom rechten Rand seit Jaaahren: war alles nicht so gemeint, hihi, war Satire, hat man doch gesehen … wer das nicht erkennt, ist blöd.
Die Argumentation ist bei den Rechten falsch – und sie ist es auch bei den Linken. Nein, der Text ist keine Satire und kann auch nicht hinterher, wenn man merkt, was für einen Mist man da geschrieben hat, zu einer umgedeutet werden.

Argument 1 ärgert mich am meisten: Ja, natürlich gibt es problematische Polizisten, die sich nicht an die Regeln halten oder diese sehr weit dehnen und ein Problem mit Minderheiten haben. Und ja, das sind auch in der Gesamtschau der letzten Jahre und nach Schilderung von Betroffenen keine Einzelfälle mehr. Aber das alles ist doch Argument für einen derartigen menschenverachtenden Text. Leute, wenn ihr anklagen wollt, dann diejenigen, die etwas falsch gemacht haben. Oder wenn das System falsch läuft, kritisiert Strukturen. Aber doch keine Menschen, die in der überwiegenden Zahl gute und vor allem notwendige Arbeit leisten. Wir brauchen doch nicht noch mehr pauschalen Vertrauensverlust in die Polizei (zu der sie fraglos ihren Teil beigetragen hat) und nicht noch mehr Öl ins Feuer einer Debatte über Fehlverhalten von Polizisten. Es hat für niemanden einen Mehrwert, wenn die Institution des Gewaltmonopols weiter an Vertrauen verliert. Das Konzept von Gewaltmonopol beinhaltet nämlich essenziell das Vertrauen in dieses.

Wer – zu Recht – Gewalt, Ausgrenzung, zunehmende Aggression in der Gesellschaft beklagt, darf diese nicht herbeischreiben oder gut finden, nur weil es die vermeintlich richtigen trifft. Macht einfach die Gegenprobe: setzt für „Polizisten“ „Feminstinnen“ ein. Ist der Text dann immer noch okay? Nein? Dann ist er in der Originalversion nicht okay.
Wer – zu Recht – bei anderen hasserfüllten und brutalen Texten davor warnt, dass „aus Worten Taten folgen“ werden, der kann nicht an anderer Stelle Menschenverachtung dulden oder verteidigen. Gegen wen auch immer! Diesen Minimalkonsens – die Würde des Menschen – dürfen wir nicht aufgeben.

Das darf man nicht tun. Tut man es doch, verliert man seine eigene Glaubwürdigkeit.

Funfact am Rande: Hengameh Yaghoobifarah hat nun selbst um Polizeischutz gebeten. Nicht funny: dass es soweit kommen muss. Auch nicht funny: das Polizisten sich für diesen Einsatz offenbar in Müllmännerkluft werfen wollten.

Keine Zeit fürs Ehrenamt

Heribert Prantl schrieb am vergangenen Freitag in der Süddeutschen Zeitung einen klugen Kommentar. Darin schreibt er über die abnehmende Bereitschaft der Bürger, sich ehrenamtlich zu engagieren. Er geht den Gründen dafür nach und stellt fest, die üblichen Verdächtigen „Egoismus“ und „passive Konsumentenhaltung“ als Erklärungsmuster „zu schmal“ sind:

[…] die Scheu vor Aufgaben, die Kontinuität erfordern, ist sehr gewachsen. Das hat nicht einfach mit der Degeneration von Empathie und Verantwortungsbewusstsein zu tun, sondern mit einer grundlegenden Veränderung der Art zu arbeiten, zu leben und zu wirtschaften. Vor etwa einer Generation hat die Verdichtung der Lebens- und Arbeitswelt begonnen; der Druck, flexibel zu sein, hat zugenommen; der Doppelverdienerhaushalt ist der Normalfall geworden. Die Menschen sind schon froh, wenn sie Beruf und Familie einigermaßen unter einen Hut bekommen. Es ist daher viel schwieriger geworden, verlässlich Zeit für Ehrenämter aufzubringen [….]

Weiter schreibt er:

Die Erwerbstätigkeit der Frauen war und ist ein emanzipatorischer Segen. Aber es ist nicht unbedingt ein gesellschaftlicher Segen, dass die bisherige maskuline Art, in Vollzeit und unter Ausschluss von Familienarbeit zu arbeiten, einfach dupliziert und auf Frauen abgepaust worden ist.

Prantl führt einen unheimlich wichtigen Punkt an: ein Ehrenamt braucht Zeit. Die ist nicht vorhanden, wenn Menschen Vollzeit arbeiten, flexibel und mit der Bereitschaft zu Überstunden, dazu Pendelzeiten und berufsbegleitender Fort- und Weiterbildung. Hinzu kommen befristete Verträge, die eben jenen Qualifizierungsdruck erzeugen und Umzüge wahrscheinlich machen. Das alles lässt die Lust aufs Ehrenamt schwinden.

Ich selbst habe einige Jahre ehrenamtlich u.a. im Vorstand eines Vereins mitgearbeitet. Seit ich zwei Kinder habe, musste ich mein ehrenamtliches Engagement stark zurückfahren. Die meiste Arbeit im Verein wird von Rentner gestemmt. Unter den jüngeren Menschen sind es Studenten oder diejenigen ohne Kinder. Familienväter und -mütter mit Erwerbsarbeit sind die Ausnahme. Auch wenn sie vorher aktiv waren, ziehen sie sich dann zurück. Einfach weil der Alltag schon so ungeheuer zeitraubend ist, dass kein Platz fürs Ehrenamt ist.
Das muss anders werden. Prantl schreibt zum Ende:

Unserer Art des Arbeitens und des Wirtschaftens fehlt die soziale und fürsorgliche Dimension. Die Krise des Ehrenamts ist ein Indiz.

Dem möchte ich mich gern anschließen.

Die Grünen und ihr Problem, keine Verzichtspartei mehr sein zu wollen

Im Zuge des Parteitages lese ich gerade öfter, dass der geplante Veggieday für das schlechte Abschneiden der Grünen bei der letzten Bundestagswahl verantwortlich war. Ich halte das für großen Quatsch. Der Veggieday – also ein fleischloser Tag in der Kantine pro Woche – war nur der Aufhänger, dass die Presse den vermeintlich „wahren“ Charakter der Grünen als Verbotspartei anprangern konnte: Seht her, die Grünen gönnen euch euer Schnitzel/eure Currywurst nicht mehr. Im Sommerloch 2013 fiel das dann auf fruchtbaren Boden, die Medien hatten ein Thema und die Grünen waren mit der Kampagne überfordert. Wohl kaum einer hatte damit gerechnet, dass diese Forderung so ein Aufregerthema werden könnte. Allerdings halte ich die Wahlniederlage durch den Veggieday als Thema für eine Legendenbildung, vielmehr war es die Art und Weise, wie der Veggieday als reine Verbotsdebatte geführt wurde, ohne die Idee dahinter zu thematisieren.
Mich als langjährigen Grünenwähler hatten bei der letzten Wahl grün-schwarze Planspiele abgeschreckt. Ich wollte Merkel abwählen, nicht ihr mit Hilfe der Grünen eine weitere Legislatur ermöglichen. Andere haben sich vielleicht von Steuerplänen (z.T. Erhöhungen) abschrecken lassen. Wodurch auch immer, am Ende haben die Grünen 8,4% bei der BTW 2013 geholt. Damit liegt man am unteren Ende der letzten Bundestagswahl und wohl so ziemlich auf Stammwählerniveau. Aber – und das ist aus Sicht der Grünen wohl das traumatische daran – weit unter den Umfrageergebnissen Monate und Jahre davor. Mitte 2011 waren die Grünen bei etwa 25% (Fukushima-Bonus), Mitte Juli – zwei Monate vor der Wahl – stand man noch bei knapp 15%.

Nach ihrem Parteitag ist den Grünen das Essverhalten des Einzelnen „egal“:

Michael Kellner distanzierte sich deutlich vom Image der Verbotspartei: „Es soll niemandem befohlen werden, wie sie oder er zu leben hat. Wir Grüne diskutieren über gute Regeln, anstatt auf autoritäre Gebote zu setzen.“ Der Fokus liege dabei auf einer Veränderung der Strukturen und nicht des individuellen Verhaltens. […]

Eine knappe Abstimmung gab es zum Umgang mit dem Veggie-Day. Der Bundesvorstands formulierte in seinem Leitantrag, „ob jemand am Donnerstag Fleisch isst oder nicht, ist uns völlig egal.“ Rhea Niggemann aus dem KV Neukölln forderte diese Formulierung zu streichen, weil die hinter dem Veggie-Day stehende ökologische Überzeugung nach wie vor richtig sei. Toni Hofreiter betonte in seiner Gegenrede, dass der Veggie-Day die politische Auseinandersetzung auf die Verbraucher verlagern würde. Wichtiger sei es hingegen, ökologische Standards gegenüber der Industrie und den großen Konzernen durchzusetzen.

Strukturen ändern statt das Individuum zu verändern. Da wird für mich ein Widerspruch aufgebaut, wo keiner ist. Schlimmer: der Einzelne kann sich somit zurücklehnen und schiebt es auf „die Strukturen“. Aber ohne das Handeln des Einzelnen wird es nicht gehen, auch der kann Strukturen verändern: Macht des Verbrauchers und so. (Um nicht missverstanden zu werden: die Strukturen müssen selbstverständlich geändert, mich stört nur das entweder-oder bzw. das lieber-so-als-so.)
Am Beispiel Fleisch und Veggiday könnte man es folgendermaßen durchdeklinieren: Weil die Forderung auf Fleischverzicht so schlecht ankommt, ändern wir jetzt die Strukturen der Lebensmittelerzeugung. Dadurch wird Fleisch teurer und man kann sich seinen Konsum seltener leisten als vorher. Ergebnis ist das gleiche, nur konnte man für das Gemüse auf dem Teller vorher die Grünen direkt verantwortlich machen, jetzt ist es „das System“.

Das gute daran: am Ende ist das Ergebnis das gleiche – der Fleischkonsum ist geringer. Das schlechte daran: nicht mehr die Grünen werden dafür verantwortlich gemacht, sondern die dahinter liegenden Strukturen. Was das bedeutet, sieht man an der Energiewende. Weil die Preise um ein paar Cent steigen – was vorauszusehen war -, steht plötzlich das Image des Atomausstiegs auf der Kippe, die Energiewende wird madig gemacht und teilweise in Frage gestellt. Obwohl es der richtige Weg ist und angesichts der Endlichkeit fossiler Brennstoffe, dem Klimawandel und der unlösbaren Probleme bei der Kernkraft praktisch alternativlos ist.

Die Grünen waren immer eine Verzichtspartei. Die Grünen haben immer gesagt, wir können nicht so weiter machen wie bisher, wir müssen da umsteuern. Mehrheitsfähig war das noch nie. Die wenigstens hören gerne, dass ihr Lebensstil nicht nachhaltig ist*.
Verbote ziehen aber häufig eine Abwehrhaltung nach sich. Darum ist der Verzicht auf Verbote und Bevormundung sicher nicht ganz falsch und man kann unter Umständen sogar mehr erreichen – mehr Menschen und mehr Ziele. Besser wäre es, eine Idee zu entwickeln, im weiteren Sinne eine Vision zu entwerfen, wofür das ganze gut sein soll. Beispiel Energiewende: Deutschland könnte der Vorreiter für etwas sein, dass alle anderen noch vor sich haben. Wir könnten uns autark in Sachen Energie machen. Beispiel Verzicht aufs Auto: mit ÖPNV und Fahrrad ist man in der Stadt häufig schneller unterwegs. Gesünder ist es auch, weil man sich mehr bewegt. Beispiel Fleischverzicht: den Viecher tut eine weniger intensive Landwirtschaft gut, der Umwelt tut es gut und dem Menschen unter Umständen auch, besonders denjenigen, die ohnehin zuviel essen.

* Nette Anekdote am Rande: Eine Umfrage will herausgefunden haben, dass gerade Anhänger der Grünen am häufigsten das Flugzeug zu nutzen – das aus Klimasicht ungünstigste Verkehrsmittel.

Der Parlamentsvorbehalt bei Einsätzen der Bundeswehr soll geschwächt werden

Der nächste Baustein auf dem Weg zur Militarisierung der Außenpolitik:  Jetzt soll am Parlamentsvorbehalt für Kampfeinsätze der Bundeswehr gesägt werden. Dafür wurde eine Kommission eingerichtet. Vorsitzender wird der ehemalige Verteidungsminister Volker Rühe sein. Kommissionen werden in der Regel dann eingerichtet, wenn die Politik zu feige ist, selbst unbequeme Entscheidungen zu treffen. Also schafft man sich selbst einen Sachzwang. Schon der Titel der Kommission ist der reine Hohn: „Kommission zur Überprüfung und Sicherung der Parlamentsrechte bei der Mandatierung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr“ nennt sie sich. Sicherung der Parlamentsrechte? Wozu Sicherung? Sie sind ja da und wenn man alles so belassen würde, wären sie auf ewig da. Das Gegenteil soll ja erreicht werden: die Parlamentsrechte sollen beschnitten werden. So heißt es dann im Beschlussantrag aus dem Deutschen Bundestag von den Regierungsfraktionen aus CDU/CSU und SPD zur Bildung der Kommission: „Die Arbeit der Kommission sollte sich auf folgende Aspekte konzentrieren“:

[…] – Untersuchung von Möglichkeiten der Abstufung der Intensität parlamentarischer Beteiligung nach der Art des Einsatzes unter voller Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts; […]

Auf gut Deutsch: Bei welchen Einsätzen lässt sich der Parlamentsvorbehalt so umgehen, dass es gerade noch grundgesetzkonform ist. In der Kommission sitzen 16 Mitglieder, 4 davon werden von der Opposition entsandt. Die Gelegenheit zur Neuausrichtung der Parlamentshoheit über die Bundeswehr ist auch günstig: Wollte man den Parlamentsvorbehalt beseitigen, müsste das Grundgesetz geändert werden. Da trifft es sich ja gut, dass die Kommission zu einer Zeit eingesetzt wird, in der die Regierungskoalition 80% der Sitze im Bundestag innehat und damit problemlos eine Verfassungsänderung umsetzen kann. Ich gehe davon aus, dass am Ende die Kommission eine Schwächung (verkauft als Flexibilisierung oder Neustrukturierung, Anpassung oder andere Euphemismen) des Parlamentsvorbehalts empfehlen wird, auch wenn jetzt alle das Gegenteil behaupten. Wahrscheinlich wird ein Kompromiss herauskommen: die Regierung darf die Entsendung bestimmen, das Parlament behält das Recht zur Rückholung. Es ist naiv zu glauben, dass so etwas politisch umsetzbar wäre. Die Kanzlerin verspricht den Einsatz der Bundeswehr und das Parlament stellt die deutsche Regierungschefin vor der Weltöffentlichkeit bloß?! Ist das vorstellbar? In internationalen Angelegenheiten zeigt ja selbst die Opposition Beißhemmung. Bei den Eurorettungsschirmen lief es doch schon genau nach diesem Muster ab. Die Regierungschefs kungeln die Entscheidungen aus, das Parlament soll es dann absegnen. Und tut es eben auch. Auch die Opposition hat im Bundestag für die Rettungsschirme gestimmt. Glaubt doch wohl keiner, dass das im Falle eines Kriegseinsatzes (aus „humanitären Gründen“) anders ablaufen würde.

Parlamentsvorbehalt als Klotz am Bein?

Die Unionsfraktion, die in der Sache das Tempo vorgibt, macht auch schon mal klar, dass der Weg in Richtung Schwächung geht:

Der stellvertretende CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Andreas Schockenhoff wies in der Debatte darauf hin, dass dieses Konzept umfassender Aufgabenteilung nur funktionieren wird, wenn die Partner sich darauf verlassen können, dass Deutschland mit seinem breiten militärischen Fähigkeitsspektrum grundsätzlich zu einem Einsatz seiner Streitkräfte bereit ist, wenn EU oder NATO einen solchen beschließen. Sonst wären „Pooling und Sharing“ nur leere Worthülsen. […] Daher muss die Kommission Wege aufzeigen, wie einerseits das Parlamentsrecht bei fortschreitender Bündnisintegration gewahrt werden kann,  wie andererseits das Vertrauen in die Zuverlässigkeit im Bündnis sichergestellt werden kann. Dafür soll sie ein Spektrum von Instrumenten entwickeln, mit denen das Spannungsverhältnis aufgelöst werden kann. Als denkbare Möglichkeiten werden unter Fachleuten bereits Vorabzustimmungen in Verbindung mit dem bereits existierenden Rückholrecht, befristete Einspruchsmöglichkeiten, Berichtspflichten oder die Einrichtung von spezifischen Gremien diskutiert. Auch über eine Weiterentwicklung der abgestuften Parlamentsbeteiligung– je nach Tragweite des Einsatzes – wird nachgedacht.

Aus Sicht der Regierung ist es halt wahnsinnig unpraktisch, dass man immer das Parlament fragen muss, ob die Armee eingesetzt werden darf. International kann man dann eben keine verbindlichen Zusagen machen und das geht dann eben nicht zusammen mit dem Wunsch, jetzt in jeglicher Hinsicht ein global player sein zu wollen. In meinen zieht die die Argumentation, warum man den Parlamentsvorbehalt beschneiden will, höchstens auf den ersten Blick. Eine gemeinsame europäische Armee („Pooling“) mit verteilten Aufgaben („Sharing“) ist natürlich nur dann handlungsfähig, wenn im Falle eines Falles alle mitmachen. Ist natürlich doof (für den Rest der Armee), wenn z.B. 2/3 der AWACS-Besatzung aus Bundeswehrsoldaten besteht und die im Kriegseinsatz dann nicht fliegen dürfen. Auf den zweiten Blick zeigt sich allerdings, dass dieses Dilemma erst entsteht, weil es sich um eine Interventionsarmee und kein reines Verteidigungsbündnis handelt. Darum geht es eigentlich: um Kriegseinsätze außerhalb des NATO-Raums. Es geht um rechtlich und politisch höchst umstrittene Einsätze. So umstritten, dass es nicht selbstverständlich ist, dass nicht jeder mitmacht. Wie im Fall Irak, Afghanistan oder zuletzt Libyen und Syrien.

Diskussion ist nicht neu

Sollte der Parlamentsvorbehalt geschwächt werden, würde das das die Konstitution der Bundesrepublik verändern. Die Diskussion darum ist übrigens nicht neu. Schon 2003 gab’s darüber eine Diskussion mit den jetzt wiederkehrenden Ideen „Vorratsbeschluss“ und „Rückholrecht“. Das war zu Zeiten von Rot-Grün. 2007 dann machte eben jener Andreas Schockenhoff – der auch jetzt die treibende Kraft hinter dem Ganzen ist -, den Vorschlag für ein „Vorratsbeschluss“mit Rückholrecht (oder eben ein Ermächtigungsgesetz) für die Bundesregierung in Sachen Bundeswehrkontingenten. Daraus wurde damals nichts. Nun also ein erneuter Anlauf, mit erdrückend breiter parlamentarischer Mehrheit, begleitet von einer Kommission. Interessant ist auch, dass die Diskussion bereits von einer Fachkommission geführt worden ist: von der Kommission „Europäische Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr“ am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH). Die kam vor ein paar Monaten, im Dezember 2013, zu einem Fazit:

Das ParlBG [Parlamentsbeteiligungsgesetz] stellt keinen Ballast für eine effektive Sicherheitspolitik dar. Es verhindert auch nicht per se eine stärkere militärische Integration im Bündnis oder in der EU. Es stellt vielmehr eine höchstrichterlich bekräftigte Forderung an unser demokratisches Gemeinwesen dar, wenn es um die schwerwiegende Frage des Gewaltmitteleinsatzes geht. Dies gilt insbesondere dann, wenn es sich um solche Situationen handelt, die nicht durch das Recht auf Selbstverteidigung gedeckt sind. Im Idealfall verhindert die Parlamentsbeteiligung übereilte Entscheidungen, ermöglicht öffentliche Kontrolle, erhöht die Legitimität des Einsatzes und stärkt die Sicherheit Deutschlands.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Komission von CDU/CSU und SPD zu einem anderen Ergebnis kommen wird.

Privatheit im Internet darf keine Privatsache sein

Hans Magnus Enzensberger gibt Tipps, wie wir in Zeiten wie diesen der Überwachung auf Schritt und Tritt unsere Privatssphäre bewahren können:

Für Leute, die keine Nerds, Hacker oder Kryptographen sind und die Besseres zu tun haben, als sich stündlich mit den Fallgruben der Digitalisierung zu befassen, gibt es zehn einfache Regeln, wie sie sich ihrer Ausbeutung und Überwachung widersetzen können […]

Und dann geht’s los: Handy und Kreditkarten wegwerfen, Onlinebanking und E-Mails vergessen, Internetshopping einstellen, Facebook, Google und Amazon vermeiden.

Natürlich ist das Satire. Kriegen leider einige nicht mit. Hätte Enzensberger noch dazu geschrieben, alle sollen Strom und fließend Warmwasser abstellen und nur das selbstgezogene Gemüse aus dem eigenen Garten essen, wäre es vielleicht noch deutlicher geworden, was er mit dem Text sagen möchte: Wir können nicht mehr zurück. Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem der Einwand, man könne ja auf sowas wie Handys oder Onlineeinkauf und -banking verzichten, nicht mehr zieht. Das wäre genauso, als würde man jemanden sagen, er solle aufs Telefon, auf Strom und Zentralheizung verzichten.

Wenn wir uns darin einig sind, dass wir ohne Internet und Datenvernetzung nicht mehr können (oder nicht mehr wollen, so wie es ohne Strom zwar auch geht, aber arg unpraktisch ist), dann ergeben sich auch andere Konsequenzen daraus: Wir müssen endlich aufhören, das Internet als kleine Spielerei zu betrachten, in dem wir unsere Freizeit verbringen. Das Dingen aus vernetzten Rechnern ist ein zentraler Infrastrukturteil unserer Gegenwartswelt geworden und dafür gehören eben auch zeitgemäße demokratische Regeln aufgestellt: Was geht und was nicht geht, welche Daten benutzt werden dürfen und welche nicht. Von Enzensberger stammt ja auch der Ausdruck von den „postdemokratischen Zuständen“ im Zuge der publik gewordenen flächendeckenden Überwachung des Internets durch die Geheimdienste.

Wir haben ein Recht darauf, dass Regeln für den Datenschutz im Internet eingehalten werden, dass nicht alles gespeichert und ausgewertet werden darf, was möglich ist. Und wir haben auch ein Recht darauf, dass es der normale Bürger kann und nicht nur „Hacker, Nerds und Kryptographen“. Um bei meinem Strom-Bild zu bleiben: eine Steckdose ist so simpel, für die sichere Benutzung muss ich kein Elektriker sein. Stecker rein – fertig. Idiotensicher. Datenschutz darf keine Privatsache sein, keine Sache individueller Sachkunde. Darum muss das Problem auch politisch gelöst werden und weniger durch die Verschlüsselung privater E-Mails oder das Nutzen von https.

Am Ende mahnt Enzensberger dann zum Handeln:

Der Schlaf der Vernunft wird bis zu dem Tag anhalten, an dem eine Mehrheit der Einwohner unseres Landes am eigenen Leib erfährt, was ihnen widerfahren ist. Vielleicht werden sie sich dann die Augen reiben und fragen, warum sie die Zeit, zu der Gegenwehr noch möglich gewesen wäre, verschlafen haben.

Intoleranz

Die Mehrheit braucht eine Minderheit von anderen, deren anders sein ihr das Gefühl gibt, der Mehrheit das Gefühl gibt, wir sind auf der richtigen Seite. Die Mehrheit verkörpert das Gute, und um das immer wieder bestätigt zu sehen, braucht sie auch das vermeintlich Böse und jede andere Erscheinungsform, sei das Hautfarbe, sei das sexuelle Orientierung, sei das nationale Herkunft, kann dazu benutzt werden, kann von der Mehrheit dazu benutzt werden, sich selbst als auf der richtigen, auf der guten Seite stehend zu definieren und die anderen auszugrenzen. Das ist der Sinn der Ausgrenzung: die Stabilisierung des Selbstbewusstseins der Mehrheit.

Das sagt der Historiker und Vorurteilsforscher Wolfgang Benz im Interview mit dem Deutschlandfunk. (auch „schön“: Zuschauerpost an den Deutschlandfunk zur Berichterstattung über Homosexualität)

Kein Bericht zu Olympia in Sotschi kam ohne den Hinweis auf die Homophobie in Russland im allgemeinen und Putin im besonderen aus. Dabei wurde offenbar vergessen, dass auch bei uns in Deutschland die Bornierten nicht weit weg sind. Entzündet hat sich das am Bildungsplan in Baden-Württemberg (hier der Entwurf), bei dem eben jedwede sexuelle Orientierung als gleichwertig und gesellschaftliche Normalität betrachtet wird. Das soll auch so den Schülern beigebracht werden. Alvar Freude hat Videos von der Demo gegen „die Indoktrination der Kinder“ am 1. Februar in Stuttgart gepostet. Die Transparente und die „Argumente“ der Bildungsplangegner finde ich schon ziemlich gruselig: so dünn ist die Decke der Aufklärung also.

nota bene: Die obige Erläuterung vom „Sinn“ der Ausgrenzung finde ich deshalb so genial, weil die sich auch auf ganz andere Bereiche anwenden lässt. Beispiel gefällig? Den eigenen Job kann man noch so scheiße und furchtbar schlecht bezahlt finden, solange es noch ein paar ALG-II-Empfänger gibt, auf die man mit dem Finger zeigen kann, kann man sich wenigstens auf der richtigen Seite und damit ein bisschen besser fühlen.

Deutschland vor einer Neuausrichtung der Außenpolitik

Bundespräsident Gauck hat auf der Münchner Sicherheitskonferenz die Eröffnungsrede gehalten und dabei eine Neuausrichtung der deutschen Außenpolitik gefordert.

Ich teile Gaucks Einschätzung, dass sich deutsche (Außen-)Politiker in den letzten Jahren wenig um die Veränderungen in der Welt gekümmert haben. Dass Deutschland in der Vergangenheit zu oft die Hände in den Schoß gelegt hat bzw. einfach mitgemacht hat. Merkel hat auch hier – ähnlich wie in der Innenpolitik – keine Ideen gehabt, Merkel hat auch hier in den letzten Jahren nur verwaltet und nicht gestaltet.
Wo war denn Deutschland, als der Arabische Frühling aufblühte? Wo war denn eine Alternativstrategie für Afghanistan? Was tut denn Deutschland dafür, die europäische Idee wiederzubeleben? Ist es nicht gerade deutsche Regierung (besonders unter Merkel), die Europa nur als Wirtschaftsraum zum Nutzen von Deutschland sieht, Südeuropa durch einen radikalen Sparkurs in Armut stürzt und gleichzeitig das Vorurteil der faulen Griechen, Spanier oder Italiener schürt? Wo war denn Deutschland, als eine Klimakonferenz nach der anderen ergebnislos beendet wurde? Wo ist Deutschland, wenn es darum geht, konsequent für Bürgerrechte und gegen die flächendeckende Überwachung durch Geheimdienste einzutreten? Wo ist das Handelsland Deutschland, wenn es darum geht, menschenverachtende Arbeitsbedingungen anzuprangern und zu verändern?

Eine Neuausrichtung wohin?

Wenn Gauck hier eine Korrektur möchte: Ja, sehr gerne. Das Primat der Politik zurückbringen, eine Zivilisierung statt Militarisierung der Außenpolitik? Ja, gerne! Deutschland setzt sich an die Spitze, um die EU zu demokratisieren? Ja, gerne! Die EU als global player etablieren, die gemeinsam für demokratische und republikanische Werte eintritt? Ja, gerne! Die UNO zu refomieren und wieder handlungsfähig machen? Ja, gerne. Und jetzt – ganz idealistisch: die Welt menschlicher und gerechter machen? Ja, ja, ja, sehr gerne!
Allerdings habe ich da meine Zweifel, dass Gauck das so gemeint hat.

Gauck sagt:

Manchmal kann auch der Einsatz von Soldaten erforderlich sein. Eines haben wir gerade in Afghanistan gelernt: Der Einsatz der Bundeswehr war notwendig, konnte aber nur ein Element der Gesamtstrategie sein. Deutschland wird nie rein militärische Lösungen unterstützen, wird politisch besonnen vorgehen und alle diplomatischen Möglichkeiten ausschöpfen.

„Manchmal“ und „auch“ kennt man aus den vergangen Jahren. Vordergründig wird auch immer gesagt, dass erst alle diplomatischen Wege ausgeschöpft sein müssen. Am Ende verliert man aber doch zu schnell die Geduld und entscheidet sich für die vermeintlich schnellere und effektivere Methode und es wird viel zu schnell militärisch handelt – wie es sich ja die letzten Jahre gezeigt hat. Was haben wir denn aus Afghanistan gelernt? Doch wohl, dass Militär dort nun gar nichts gebracht hat. Sobald die westlichen Soldaten abgezogen sind, kehren die alten Machthaber zurück. Wo war denn eine Gesamtstrategie in Afghanistan? Und was heißt hier, eine „rein militärische Lösung“ werde Deutschland nicht unterstützen? Eine „rein militärische Lösung“ ist ein Angriffskrieg und dass wir den nicht unterstützen, dürfte einerseits klar sein und ist andererseits grundgesetzlich verboten. Und nochmal: eine rein militärische Lösung ist keine Lösung, damit wird gar nichts gelöst, die Probleme werden nur verändert und vergrößert.
Ironie der Geschichte: im 100. Jahrestag des Beginns des 1. Weltkrieges verknüpft Gauck (wirtschaftliche) Interessen mit militarisierter Außenpolitik.
Wie das „Ausschöpfen der Diplomatie“ dann am Ende aussieht, haben wir in Syrien gesehen. Die Militärmaschinerie lief schon auf Hochtouren und dann kamen die Verhandlungen mit Assad mehr zufällig denn beabsichtigt zustande.

Unvermutet schnell geraten wir hinein in eine Welt, in der sich einzelne so viel Vernichtungskraft kaufen können wie früher nur Staaten. Eine Welt, in der ökonomische und politische Macht wandert und ganze Regionen aufrüstet. Im Nahen Osten drohen sich einzelne Feuer zu einem Flächenbrand zu verbinden.

Gerade der Nahe Osten ist doch ein schönes Beispiel. Seit Jahrzehnten stützt der Westen dort undemokratische Regime, weil es uns genutzt hat, weil wir das aus der Region dort brauchen. Wir haben damit eine Demokratierung, eine Modernisierung dieser Region verhindert. Und jetzt wundern wir uns, dass sich das Pulverfass dort unten entzündet? Wir konnten und können gut mit undemokratischen Strukturen und Diktaturen dort unten leben, solange sie uns im Westen wohlgesonnen sind. Wo war denn die politische Unterstützung aus dem Westen für den Arabischen Frühling?
Und welche „Einzelnen“ meint Gauck, die sich Waffen in staatlichem Ausmaß kaufen können?

Handelswege schaffen auch mit Waffen

Gauck sagt auch:

Deutschland ist überdurchschnittlich globalisiert und profitiert deshalb überdurchschnittlich von einer offenen Weltordnung – einer Weltordnung, die Deutschland erlaubt, Interessen mit grundlegenden Werten zu verbinden. Aus all dem leitet sich Deutschlands wichtigstes außenpolitisches Interesse im 21. Jahrhundert ab: dieses Ordnungsgefüge, dieses System zu erhalten und zukunftsfähig zu machen.

Das liest sich für mich im Kontext des Rest der Rede danach, dass wir dafür sorgen müssen, auch weiterhin uneingeschränkt Zugang zu Rohstoff- und Absatzmärkten zu haben. „Manchmal“, siehe oben, dann eben auch mit der Bundeswehr. Ex-Bundespräsident Köhler hatte das auch schon mal gesagt, hatte sich damals ordentlich Kritik dafür eingefangen und ist dann beleidigt zurückgetreten.

Gauck spricht auch gleich die Kostenfrage an:

Es ist ja richtig: Probleme zu lösen, kann Geld kosten. Aber nicht nur in der europäischen Krise haben wir bewiesen, dass wir bereit sind, weit zu gehen, Bündnisverpflichtungen einzuhalten und Unterstützung zu leisten, weil dies letztlich in unserem eigenen Interesse liegt.

Was die Kosten angeht, hätte ich da übrigens eine Idee: Die, die davon am meisten vom freien Welthandel profitieren, sollten auch zur Finanzierung herangezogen werden: die Unternehmen. Wenn VW und Siemens stabile Absatzmärkte brauchen und der deutsche Staat dafür sorgen soll, dann sollte diese Unternehmen an den Kosten beteiligt werden. „Unser eigenes Interesse“ ist nämlich das Interesse der Industrie und nicht unbedingt des deutschen Bürgers.

Fazit

Der Tenor der Rede liegt mir zu sehr auf den wirtschaftlichen Interessen Deutschland und des Westens in Verbindung mit der Militär. Das ist in meinen Augen der falsche Ansatz. Mir geht es in Gaucks Rede zu wenig um die Gestaltung der Welt zugunsten der Menschen in der ganzen Welt und nicht nur in der westlichen Welt.

Außenminister Steinmeier und Verteidigungsministerin von der Leyen haben sich offenbar mit Gauck abgesprochen und stoßen ins gleiche Horn. Und wenn es noch Zweifel gab, dass sich hinter der Neuausrichtung mehr als nur Diplomatie verbirgt, der dürfte von Außenminister Kerry eines Besseren belehrt worden sein:

„Bislang sind wenige Länder bereit, wirklich Führung zu übernehmen“, sagt Kerry. „Führung bedeutet nicht nur, gute Diskussionen in München zu haben. Es heißt auch, die entsprechenden Ressourcen zur Verfügung zu stellen.“

Mit „Ressourcen“ sind sicher keine Heerscharen von Diplomaten und Entwicklungshelfern gemeint, sondern eben Soldaten und Kriegsgerät.

EU verzichtet kurzsichtig auf die ambitionierte Klimaziele

Die EU lockert ihre ambitionierten Klimaziele und den Aufbau erneuerbarer Energien – weil es der Wirtschaft in der EU zur Zeit nicht so gut geht. Die Ökologie gegen die Ökonomie auszuspielen ist falsch und unklug, es ist kurzsichtig.

Schon in den „Grenzen des Wachstum“ wird dargelegt, dass die Kosten für das Umsteuern umso höher sind je länger man zögert. Das leuchtet auch ein: der „Zug“ Klimawandel setzt sich erst langsam in Bewegung und erhöht dann peu á peu die Geschwindigkeit. Je länger der Zug fährt, umso schneller wird er und umso kürzer wird die Strecke bis er gegen die Wand fährt. Will man ihn zum stehen bringen, muss man deshalb immer stärker bremsen. Das heißt, der Umbau der Wirtschaft – um den man über kurz oder lang nicht herum kommt – ist dann in kürzerer Zeit zu bewerkstelligen. Kürzer heißt dann auch, dass der Umbau hektischer geschehen muss und Anpassungsprozesse nicht die Zeit bekommen, die sie benötigen, um auf Akzeptanz zu stoßen und kontrolliert ablaufen zu lassen.
Je länger man wartet, umso teurer wird es also: zum einen fallen Kosten als Folgen des Klimawandels an (z.B. Schäden durch Stürme, Überschwemmungen, Starkregen, Hitzeperioden etc.), zum anderen ist gleichzeitig der Umbau zu stemmen, der in kürzerer Zeit und dadurch mit mehr Geld umgesetzt werden muss.

Ökonomisch könnte außerdem Europa (und insbesondere Deutschland) eine Vorreiterrolle einnehmen. Der Umbau auf eine nachhaltige Wirtschaft steht allen bevor, egal ob der Klimawandel kommt oder nicht: schlicht deshalb, weil die Rohstoffe endlich sind und es ein „weiter so“ nicht geben kann. Stattdessen könnten wir in Europa die Produkte, die Ideen, die Maschinen und Technologien liefern, die in naher Zukunft überall in der Welt benötigt werden. Das klingt doch nach einem guten Geschäftsmodell.

Eine andere Lesart: die Abkehr von den Klimazielen ist eine fatalistisch-realistische Politik der EU. Wenn der Klimawandel eh nicht mehr aufzuhalten ist und jede Zurückhaltung der EU ohne die USA und die BRICS-Staaten für den Klimaschutz nichts bringt, dann feiert man die Party weiter, bis der Kahn halt sinkt. So kann wenigstens noch eine Generation so weiter machen wie bisher und wer weiß, wer weiß, vielleicht passiert noch ein Wunder und man hat dann umsonst Wasser gegen den Schampus eingetauscht.

Regierungen werden die Geheimdienste nicht einschränken

Obama will also seinen Geheimdienst nicht an die Kette legen und die Reformen haben eher kosmetischen Charakter. Hat jemand etwas anderes erwartet? Und was ist eigentlich mit den Briten und deren Lauschereien? Fragt eigentlich mal jemand – sozusagen über den kurzen EU-Dienstweg – bei David Cameron nach, ob er seinem Geheimdienst das Spionieren verbieten wird? Die Antwort wäre die gleiche wie die von Obama.

Regierungen – egal welche – sind auf keinen Fall bereit, auf einen Geheimdienst, auf einen Nachrichtendienst, der ihnen direkt unterstellt ist und der sich weitgehend parlamentarischer und erst recht öffentlicher Kontrolle entzieht, zu verzichten. Sie werden sich dieses Instrument exekutiver Macht nicht wegnehmen lassen. Mehr zu wissen als der (politische) Gegner – darauf verzichtet keiner freiwillig.

Die deutsche Bundes- und die Landesregierungen machen es übrigens nicht anders. Wir haben ja unseren eigenen Geheimdienstskandal, der sich in nur einem Vokal vom amerikanischen unterscheidet: die NSU-Affäre. Eine unglaubliche Aneinanderreihung von Unfähigkeiten und Ekligkeiten tritt dort zutage. Da gärt und fault es gewaltig in der geheimen Dunkelheit. Die Aufklärung ist unendlich schwierig, Verfassungsschutz und Regierung mauern, wo sie nur können. War man auf dem rechten Auge blind? Mag sein, aber die Unfähigkeit setzt sich ja nahtlos in der NSA-Affäre fort: internationale Geheimdienste spionieren offenbar an unseren Geheimdiensten, deren Aufgaben eben auch die Spionageabwehr ist, vorbei. Entweder war das Unfähigkeit oder man wusste davon und wollte nichts verhindern – was spätestens mit dem Abhören des Kanzlerhandys als unwahrscheinlich gelten darf.

Was für Konsequenzen folgen daraus? So gut wie keine. Oder anders gesagt: Genausoviel, wie Obama jetzt verspricht: kosmetische Veränderungen an den Geheimdiensten und am Führen von V-Leuten, hier und da werden Leute ausgewechselt, ein Geheimdienstinsider soll im Kanzleramt die Geheimdienste besser koordinieren (was auch immer das heißen mag) und das Parlamentarische Kontrollgremium soll (!) mehr Kompetenzen bekommen. Das System als solches wird hingegen kaum – abseits von Teilen der Grünen und Linken – in Frage gestellt. Die Auflösung der unnützen und sogar schädlichen Dienste wird nicht mal ernsthaft diskutiert. Eine Demokratrisierung, die durchgängige Transparenz – was faktisch einer Abschaffung von Geheimdiensten gleich käme – steht seitens der Regierung und der sie stützenden Parteien im Bundestag auch nicht zur Debatte. Auch das Nichtreagieren der Regierung in dieser Sache erklärt sich dadurch, dass man die Schnüffelei in der Tat nicht sooo schlimm findet und die ganze Aufregung in (Teilen) der Bevölkerung nicht nachvollziehen kann. Als Exekutive macht man das nämlich jeden Tag selbst und kriegt regelmäßig die Berichte zu lesen.

Die ganze Diskussion um die NSA ist unehrlich. Einerseits will man von Regierungsseite überhaupt keine Affäre sehen und hält alles für mehr oder weniger unbewiesene Behauptungen und nutzt dieses Argument ja auch, um zu erklären, warum man sich so handzahm gegenüber den USA gibt. Andererseits stellt man die eigenen Geheimdienste nicht in Frage, mault aber rum, wenn Obama seine Geheimdienste nicht einschränken will. Freiwillig wird keine Regierung ihr letztes unreguliertes und nahezu unkontrolliertes Spielzeug hergeben. Das werden wir als Bürger uns erstreiten und erkämpfen müssen.