Archiv der Kategorie: nachdenkliches

Familien(un)freundlichkeit 2014

Wie es um die Familienfreundlichkeit in Deutschland aussieht, konnte ich in den letzten Tagen anhand drei Nachrichten und der Reaktion darauf erkennen. Zuerst kündigte Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel an, einen Nachmittag in der Woche für die Familie freizunehmen, dann machte die neue Familienministerin Manuela Schwesig den Vorschlag, Eltern zukünftig leichter und mit Steuergeldern subventioniert eine Teilzeitarbeit zu ermöglichen und die ewige Familienministerin und neue Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen möchte die Bundeswehr familienfreundlicher gestalten, u.a. auch mit mehr Teilzeitmöglichkeiten.

Jeder Vorschlag an sich ist nicht sonderlich spektakulär und man kann sicher so oder so dazu stehen. Was mich aber wirklich entsetzt hat, sind die Reaktionen darauf im Spiegel-Online-Forum (nachzulesen direkt unter den oben verlinkten Artikeln). Klar, sollte man Forenmeinungen nicht überbewerten, aber ich halte so ein großes Leserforum für irgendwie repräsentativ. Nehmen wir mal die Meinungen zum Schwesig-Vorschlag: Die überwiegende Mehrheit (zumindest auf den ersten Seiten, danach habe ich nicht mehr weitergelesen) ist der Überzeugung, dass für Familien eh schon zuviel Geld ausgegeben, sonstwie zu viel getan wird und ausgefallene Arbeitszeit durch Teilzeit oder Krankkeit der Kinder nur zulasten der Kollegen gehen, die dann diese Arbeit noch miterledigen müssen. Und überhaupt ist das ja alles total realitätsfremd. Wer Karriere machen will, der muss halt mindestens 40 Stunden arbeiten, sonst geht das überhaupt nicht, auf so Teilzeitkollegen ist ja auch kein Verlass, die sind ja gar nicht permanent erreichbar.

Spiegel Online bezeichnet Gabriel wegen einem (!) freien Nachmittag (!!) in der Woche (!!!) als „Vizekanzler in Teilzeit“. Ich hätte jetzt eher erwartet, dass Kommentare kommen, dass ein Nachmittag in der Woche das Kind von der Kita abzuholen ein bisschen dürftig ist als Vateraufgabe. Das ist jedenfalls meine Meinung. Ich würde einen Nachmittag in der Woche für mein Kind als viel zu wenig empfinden. Die Meinung im Forum ist aber genau anders: Gabriel sei priviligiert (als Politiker und Beschäftigter im öffentlichen Dienst) und nur deshalb sei sowas überhaupt möglich, in der Privatwirtschaft und erst recht bei Führungskräften dürfe es sowas gar nicht geben. Man wirft Gabriel eine laxe Einstellung zum Job vor, der nicht bereit ist, „alles“ für seinen Job zu geben.

Ja, natürlich ist diskriminierungsfreie Teilzeit und Vereinbarkeit von Familie und Beruf noch eher die Ausnahme als die Regel, sonst würde es ja nicht diese Aktionen und Initiativen geben. Und es würden sich nicht auch soviele Menschen genau das wünschen – sondern würden es längst machen. Für mich ist das Maulen nichts weiter als Denkfaulheit: ein 40-Stunden-Vollzeitjob ist die Norm, alles andere nur ein Kompromiss. Und diese Denkfaulheit kommt offenbar von Leuten, die eben keine Kinder haben. Wenn wir an der Vereinbarkeit von Familie und Beruf nichts ändern, könnte ein Phänomen zum Problem werden: die, die Karriere machen und dann die Entscheidungsträger sind, haben keine Kinder und treffen dann Entscheidungen – in der Politik und in Unternehmen – die eben an den Bedürfnissen der anderen vorbeigehen – denen mit Kinder.

Denkfaulheit ist es auch deshalb, weil Teilzeit eine Frage der Organisation ist. Der Tag hat 24 Stunden, der Vollarbeitstag „nur“ 8 Stunden und trotzdem gibt es bestimmte Bereiche, die rund um die Uhr funktionieren müssen: z.B. Polizei, Krankenhäuser, Tankstellen. Also muss das organisiert werden. Sowas lässt sich auch organisieren, egal ob die Mitarbeiter nun 40, 30 oder 20 Stunden in der Woche arbeiten. Teilzeit für Soldaten sei Quatsch, heißt es dann, schließlich kann keiner nach 4 Stunden die Waffe fallen lassen. Nein, natürlich nicht. Aber bisher lässt auch kein anderer Soldat mit einer 40-Stunden-Woche nach exakt 8 Stunden die Waffe fallen und kein Polizist tut sowas und kein Chirurg lässt das Skalpell fallen. Es sind ja nur Durchschnittszeiten. Wenn längere Zeiten an einem Tag nötig werden, dann sind halt die freien Tage danach auch länger. Wo ist das Problem?!
Ich weiß auch nicht, woher die Vorstellung kommt, man könne mit z.B. 30 Wochenstunden keine so gute Leistung erbringen, dass man Karriere machen kann. Diese 40 Stunden sind doch nicht als letzte Weisheit vom Himmel gefallen und stehen in Stein gemeißelt für die Ewigkeit, das ist eher eine willkürlich Norm (bzw. genaugenommen ist es geschichtlich gesehen eine gewerkschaftlich und politisch erkämpfte Abeitszeitreduktion). Aber diese 40 Stunden stehen nicht selten einem angenehmen Familienleben im Weg.

Es muss da einen gesellschaftlichen Wandel im Denken geben. Vereinbarkeit von Familie und Beruf muss zum Normalfall werden, mit reduzierter Arbeitszeit und beruflicher Weiterentwicklung auch wenn man sich weiterhin um seine Kinder kümmern möchte – was nun mal Zeit beansprucht. Mit Homeoffice und Vernetzung wäre die Organisation der Arbeit auch so einfach wie nie.
Andere gehen noch weiter und fordern gleich eine grundsätzliche Reduktion der Normarbeitszeit hin zu einer 30-Stunden-Woche. Das würde sicherlich einiges entschleunigen. Aber das wäre ein eigenständiger Blogeintrag wert.

Waffengesetze in den USA: richtige Debatte, falscher Anlass

Die Reaktionen auf einen Amoklauf scheinen immer nach einem ähnlichen Schema abzulaufen. Eine vermeintliche monokausale Ursache wird in den Mittelpunkt der Diskussion gestellt: Irgendetwas hätte verboten sein müssen, dann wäre das furchtbare Drama nicht passiert.

In den USA nach dem Amoklauf von Newtown läuft nun die Diskussion auf schärfere Waffengesetze hinaus. Bei uns waren dann – angesichts schon sehr strikter Waffengesetze – Computerspiele Thema der Debatte. Bei uns sind Waffen sehr reglementiert und trotzdem kam es zu den Amokläufen. Natürlich wären strengere Waffengesetze in den USA sicher sehr sinnvoll, damit nicht jeder eine Waffe haben darf und damit würden vielleicht auch grundsätzlich weniger Menschen in den USA durch Schusswaffen sterben. Aber an der grundsätzlichen Gefahr von Amokläufen ändert. Wer so eine Tat plant, der findet einen Weg, an Waffen heranzukommen. So eine Tat lässt sich letztlich nicht verhindern, so schlimm es auch ist, sich das einzugestehen.

Diese Stellvertreterdiskussion nervt mich ein bisschen. Da tickt ein Mensch aus und läuft Amok und wir reden von Waffengesetzen oder Ballerspielen. Interessanter und möglicherweise zielführender wäre es, wenn man sich fragen würde, welche sozialen und gesellschaftlichen Umstände solche Taten begünstigen. Aber am Ende bliebe wahrscheinlich die Erkenntnis, dass man solche Taten nie ganz verhindern kann.

Vergeltung, aber keine Gerechtigkeit

Justice has been done

Der Gerechtigkeit wurde genüge getan. So hat Obama die Tötung von Osama bin Laden heute kommentiert. In meinen Augen ist das keine Gerechtigkeit, das ist Vergeltung. Offenbar hatte man auch gar nicht vor, bin Laden gefangen zu nehmen. Das war eine Tötungsmission im Auftrag von Obama.
Dazu gibt es dann noch Freudenfeiern in New York und Washington.

Unsere deutschen Politiker sind natürlich kein bisschen besser. Bundeskanzlerin Merkel z.B. sagt dazu:

Ich habe dem amerikanischen Präsidenten Barack Obama meinen und unseren Respekt für diesen Erfolg und für diese gelungene Kommandoaktion mitgeteilt.

[…]

Ich freue mich darüber, dass es gelungen ist, bin Laden zu töten.

Ich bin einigermaßen fassungslos, dass von Politikern Freude über die gezielte Tötung an einem Menschen geäußert wird. Stattdessen hätte es eher Bedauern geben müssen, dass er nicht gefangen genommen werden konnte und es so kein ordentliches Gerichtsverfahren gegen bin Laden geben wird.

Wir bilden uns im Westen soviel ein auf unsere Werte, auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Und dann wird nach einer gezielten Erschießung Freude geäußert und von Gerechtigkeit gefaselt. Gerecht wäre einzig und allein ein Gerichtsverfahren gewesen. Die Auslegung, man sei mit bin Laden im direkten Krieg gewesen und darum sei ein Tötung von ihm nach Kriegsvölkerrecht legitim gewesen, halte ich auch für sehr weit hergeholt.

Wahrscheinlich hat man ein Gerichtsverfahren vermeiden wollen. Möglicherweise hätte man bin Laden nicht mal die Urheberschaft für die Terrorattentate nachweisen können. Das FBI beispielsweise sucht ihn nicht mal wegen der Attentate vom 11. September, sondern „nur“ wegen Anschläge auf US-Botschaften. Außerdem wären dann die guten Kontakte von bin Laden und seinen Mudschaheddin zur CIA und US-Politikern während des sowjetisch-afghanischen Krieges zur Sprache gekommen. Kurz: ein Gerichtsverhandlung wäre möglichweise für USA peinlich geworden. Aber das darf ja keine Kriterium sein, ob es zu einem Gerichtsprozess oder Kopfschuss kommt.

Mit der Erschießung von bin Laden hat man eine große Chance vertan zu zeigen, dass dem Westen Rechtsstaatlichkeit, Moral und Werte was wert sind. Stattdessen hat man auf Rache und Vergeltung gesetzt. Ich bin von Obama enttäuscht, von ihm hätte ich was anderes erwartet.
Wie ich an anderer Stelle schon mal schrieb: Wir verraten die Werte, die wir zu verteidigen glauben.

Nachtrag (09.05.11): Wer immer noch glaubt, man habe versucht, bin Laden gefangen zu nehmen und dabei habe man ihn leider erschießen müssen, weil er Widerstand geleistet hätte, der lese sich mal den Artikel von der NY Times bzw. von tagesschau.de durch.  Kurzfassung: es gab so gut wie keinen bewaffneten Widerstand, einmal wurde auf die Elitetruppe geschossen. Bin Laden selbst war mit seiner Frau im Schlafzimmer.  Eine Pistole und ein Maschinengewehr waren „in Reichweite“, er hatte es also nicht in der Hand.  Mit anderen Worten: er war unbewaffnet. Und trotzdem hat man ihn nicht nur kampfunfähig gemacht, sondern eben mittels Kopfschuss getötet. Mir braucht dann keiner erzählen,  die USA hätten bin Laden lieber gefangen genommen.

Der verlogene Krieg gegen Libyen

Der Krieg der NATO gegen Libyen war für mich von Anfang an seltsam. Eigentlich geht es in der entsprechenden UNO-Resolution nur darum, die Zivilbevölkerung vor den Übergriffen der Gaddafi-Truppen zu schützen.

Das war nie sonderlich glaubwürdig. Im Grunde ging es von Anfang an darum, Gaddafi zu stürzen. Man unterstützt mit Gaddafis Gegner mit Militär-Beratern, diskutierte deren Bewaffnung und die Geheimdienste waren natürlich auch schon gegen Gaddafi im Einsatz. In Libyens Hauptstadt Tripolis kam es zu Angriffen aus Gaddafis Residenz. Und heute wurden ein Sohn von Gaddafi und drei seiner Kinder bei einem Luftschlag getötet. Nur wenn man die UNO-Resolution seeehr großzügig auslegt – erst wenn Gaddafi weggebombt ist, sind die Zivilisten sicher – lässt sich das noch rechtfertigen. Bei normaler Auslegung der Resolution geht hier die NATO weit über ihre Befugnisse hinaus.

In noch einem anderen anderen Punkt machen sich die Libyen-Krieger und Vertreter eine bellizistischen Außenpolitik unglaubwürdig: Man war angetreten, Menschenrechte zu verteidigen und die Souveränität von Staaten hinter die Rechte und den Schutz der Bevölkerung zu stellen. Endlich werde interveniert, wenn irgendwo auf der Welt die Bevölkerung von ihrem Diktator umgebracht wird: Menschenrechte vor Völkerrecht.
Und nun ist das Syrien. Auch dort gehen die Menschen auf die Straße und auch dort werden die Regimegegner umgebracht.

Es wird teurer werden

Nachdem nun alle ganz schnell aus der Atomenergie aussteigen wollen, kommt nun so langsam die Diskussion in Fahrt, was das alles kosten könnte. Da werden dann wild ein paar Zahlen in den Raum geworfen, die kaum einer überprüfen kann und die vor allem viel Wind machen und so ganz nebenbei den Umbau des Energieversorgungssystem als Preistreiber diskreditieren soll. Das Stromnetz muss umgebaut werden, wenn es für die erneuerbaren Energien, die eine ganz andere Struktur der Stromeinspeisung haben als träge Atomkraftwerke, taugen soll. Das ist keine neue Erkenntnis, sondern schon länger bekannt, es muss halt jetzt nur ein bisschen schneller gehen, wenn die AKWs schneller vom Netz sollen.

Wobei eines natürlich klar ist: teurer wird’s schon. Das ist aber eine ganz generelle Feststellung, wenn wir über Nachhaltigkeit reden. Denn eins ist klar: unser ressourcenverschleudernder Konsumstil ist nicht durchzuhalten, wenn wir in ein paar Jahrzehnten noch einen bewohnbaren Planeten haben wollen. Das alles kann nur so preiswert oder so billig sein, weil die Umweltkosten überwiegend nicht eingepreist sind in die Produkte, die wir kaufen.

Beispiel 1: Wenn wir keine Massentierhaltung mehr wollen, dann geht’s eben mit extensiver Landwirtschaft. Das bedeutet weniger Ertrag pro Hektar Ackerland bzw. pro m² Stallfläche. Dann wird das Steak oder die Wurst oder das Müsli halt teurer.

Beispiel 2: Wenn wir Metalle nicht mehr von im Raubbauverfahren aus der Erde pflügen, wenn wir die Arbeiter in den Minen und später in der Produktion menschenwürdig bezahlen, dann kostet der Fernseher keine Dreieurofuffzig mehr beim Saturn. Und die Rohstoffknappheit kommt dann noch preistreibend oben drauf.

Aus dem Grunde denke ich auch, dass die große Bewährungsprobe für die derzeit akute Nachhaltigkeits- und Umwelteuphorie erst noch kommt. Nämlich dann, wenn es ans Eingemachte, ans Portmonaie geht. Wenn wirklich Lebensstile in Frage gestellt werden, wenn z.B. das Autofahren viel teurer oder der Urlaub per Flugreise nicht mehr bezahlbar wird, weil das dabei in die Luft geschleuderte CO2 auf den Kraftstoffpreis drauf gepackt wird.

Oder wenn wir sagen müssen, wir können Wirtschaftswachstum nicht mehr durch Produktionswachstum an Gütern und Waren erzeugen, weil die Ressourcen auf dem Planeten endlich sind.

Wie es sich auch entwickeln wird, wenn wir es ernst mit der Nachhaltigkeit meinen, dann gehört auch die Wahrheit dazu, dass Konsum teurer und der materielle Wohlstand stagnieren, vielleicht sogar leicht fallen wird. Zu glauben, wir pinseln unseren Lebensstil einfach nur grün an und damit ist es getan, irrt sich. Ich bin gespannt, wer sich von den Parteien als erstes mit dieser Wahrheit an die Öffentlichkeit traut. Und diese Partei wird mit Sicherheit Prügel beziehen dafür. Erinnert sich noch einer an den 5-Mark-Benzinbeschluss der Grünen auf dem Parteitag 1998 in Magdeburg? Und an den Absturz der Grünen danach? Auch wenn die Grünen im Augenblick auf einer Sympathiewelle reiten (24% bundesweit in den Umfragen und damit knapp vor der SPD), das kann alles sehr schnell vorbei sein.

Aber irgendwann wird die Wahrheit auf den Tisch kommen müssen. Ich bin sogar optimistisch, dass eine nicht unerhebliche Anzahl Menschen bereit zum materiellen Verzicht sind.

Unglaubwürdige Wendemanöver in der Atomfrage

Ich versuche es mal in Worte zu fassen, was mich in den letzten Tagen seit dem Tsunami in Japan und dem GAU in Fukishima gedanklich beschäftigt hat.

Um es mal in einem Satz zu sagen: Ich fühle mich verarscht.

Ich fühle mich verarscht, weil heute das Gegenteil von gestern gemacht wird. Und weil so getan wird, es wäre dieser Schwenk aus Einsicht entstanden. Und weil man versucht, die Bürger – mich! – zu verarschen, indem man nicht zugibt, dass die Entscheidungen, die gestern gefallen sind und heute gefällt werden, aus politischem Kalkül so getroffen werden.

Vor einem halben Jahr hat man die Laufzeit der AKWs, die bis 1980 gebaut wurden, um 8 Jahre verlängert. Heute wurden eben Reaktoren kurzerhand vom Netz genommen, weil ihre Sicherheit erstmal überprüft werden muss. Was hat sich denn an der Sicherheit im letzten halben Jahr so gravierend geändert? Warum konnte man überhaupt eine Laufzeitverlängerung für so überprüfungsbedürftige verantworten? Und vor allem: Warum hat man nicht vor der Laufzeitverlängerung geprüft?
Die Antwort: seit Japan ist alles anders. Das ist Quatsch. Ein 9,0-Beben wird es in Deutschland nicht geben, einen Tsunami auch nicht. Die anderen Risiken und der nur unzureichende Schutz davor waren schon vor der Laufzeitverlängerung bekannt und wurden eben – politische Entscheidung! – in Kauf genommen: mangelnder Schutz gegen Flugzeugabstürze, kleinere Erdbeben, unzureichende Notstromversorgung im Falle eines Stromausfalls. Das ist nichts neues, das wusste man alles auch schon vor der Laufzeitverlängerung.

Vor einem halben Jahr waren die alten AKWs für die Stromversorgung so wichtig, dass man sie länger laufen musste. Jetzt plötzlich kann man sie über Nacht abschalten, ohne dass es zu Problemen im Netz kommt. Die gleiche Regierung, die vor einem halben Jahr die alten Meiler für unverzichtbar hält als „solides Fundament in der mittelfristigen Energieversorgung“, erzählt mir heute, dass sieben abgeschaltete Reaktoren „die Energieversorgung nicht beeinträchtigen“ und dass die Menge an überproduziertem Strom „mehr als doppelt so hoch [ist] wie die Gesamtleistung der jetzt vom Netz gehenden Kernkraftwerke“. Wie passt denn das zusammen?! Da muss man sich doch an den Kopf greifen.

Jetzt soll es eine Ethikkommission richten. Sie soll über die Zukunft der Kernenergie beraten. Was soll dabei herauskommen? Der Umweltrat hat der Bundesregierung von der Laufzeitverlängerung abgeraten – gehört hat sie nicht drauf. Die Risiken der AKWs sind bekannt, ebenso die ungeklärte Endlagerfrage. Das Problem von länger laufenden AKWs als Hemmnis für den Ausbau für erneuerbare Energien – der „träge“ Atomstrom passt nicht zum schnell wechselnden Strom aus Wind und Sonne, beide Fraktionen brauchen unterschiedliche Leitungssysteme, beides in einem System verträgt sich nicht recht – ist auch bekannt. Das grundsätzliche Problem von AKWs in dichtbesiedelten Gebieten sollte auch bekannt sein: kommt es zu einem zugegebenermaßen sehr unwahrscheinlichen GAU, hat das unabsehbare Folgen. Diese Technik ist nicht fehlertolerant und die Folgen eines außer Kontrolle geratenen Reaktors sind nicht absehbar oder räumlich eindämmbar.

So sinnvoll ein Nachdenken über die richtige Energiepolitik auch ist, warum passt das erst jetzt ergebnissoffen? Eben weil diese Bundesregierung die Atomkraftwerke länger laufen lassen wollte. Dann soll sie sich aber auch hinstellen und genau das auch sagen: wir finden Atomenergie gut. Außerdem haben wir ein offenes Ohr für die Stromkonzerne und halten eine Laufzeitverlängerung für ein win-win-Situation: die Mehrgewinne sind für die Konzerne und das Staatssäckel gut.
Darum ist jetzt das Umschwenken so unglaubwürdig: Man kann nicht innerhalb eines halben Jahres die Überzeugung zur Laufzeitverlängerung wechseln, obwohl sich objektiv die Fakten und Rahmenbedingungen nicht verändert haben. Andererseits kann man natürlich das Mantra von den sicheren Reaktoren nicht mehr länger wiederholen, ohne sich vollständig lächerlich zu machen. Ein echtes Dilemma für CDU/CSU und FDP, jetzt gibt es plötzlich auch dort überall Kernkraftgegner. Offenbar hat man wirklich davon einlullen lassen, dass es es sich beim damals explodierten Reaktor in Tschernobyl um einen total maroden Sowjetreaktor handelte und das sowas natürlich niemals in supertollen westlichen AKWs passieren könnte.

Es wird offensichtlich, dass die Entscheidung zur Laufzeitverlängerung nicht das Ergebnis einer sachverständigen Abwägung von Risiken, Nutzen und Notwendigkeit war – das wird so jetzt mehr als offensichtlich. Wie kann es sonst sein, dass die Bundesregierung innerhalb von nur sechs Monaten ihre Laufzeitverlängerung offenbar für falsch hält. Nennt mich idealistisch, aber ich denke, eine Regierung sollte Entscheidungen auf der Basis der Abwägung von Fakten treffen.
Weil das offenbar nicht getan wurde, fühle ich mich verarscht.

Ein schwacher Trost bleibt immerhin: Mit dem forcierten Atomausstieg geht es immerhin in die richtige Richtung. Wenn auch aus falscher Motivation.

Schlichtung zu Stuttgart 21: Modell für Transparenz und Bürgerbeteiligung

Die Schlichtung zum Bau oder Nichtbau von „Stuttgart 21“ ist vorbei. Schlichter Heiner Geißler ist eher für den unterirdischen Bahnhof, wenn auch mit Änderungen. Unabhängig vom Ausgang kann man aber eine Menge von dieser Veranstaltung lernen.

Ich habe mir ein paar Male die Übertragung zur Schlichtung von Stuttgart 21 angeschaut. Inhaltlich interessiert mich die Tatsache, ob es in Stuttgart nun ein erweiterter oberirdischer Kopfbahnhof oder ein unterirdischer Durchgangsbahnhof wird. Aber die Form, wie um die beiden Konzepte gerungen wird, finde ich faszinierend und wegweisend.

Anfangen mit der Webseite, die alle relevanten Informationen enthält, Terminübersicht, die Teilnehmer der Schlichtungsrunde, die Wortprotokolle und Präsentationen zum Herunterladen, TV-Mitschnitte und Verlinkung der Livestreams.

Entscheidend waren aber die Beteiligten. Weil auf der Seite der S21-Gegner eben nicht nur Bürger rumsaßen, die da irgendetwas rummeinten, sondern ebenso großer Sachverstand vertreten war wie auf der S21-Befürworterseite, wurde aus der Schlichtung eine Diskussion auf hohem fachlichen und sachlichen Niveau. Und die dargelegten Fakten haben gezeigt, dass es gute sachliche Gründe gegen den unterirdischen Bahnhof gibt und dass damit die Demonstrationen gegen S21 nicht nur ein einfaches „Wir sind dagegen“ ist.

Die S21-Schlichtung ist gelebte Bürgerbeteiligung, so sieht es aus, wenn man das Wort Demokratie ernst nimmt und die Bevölkerung in Entscheidungen, was im öffentlichen Raum passiert, mit einbezieht. So sieht es aus, wenn Entscheidungen transparent und öffentlich gemacht werden und nicht in Hinterzimmer oder schlicht in Amtsstuben entschieden und hinterher verkündet werden. Und diese Schlichtung hat auch gezeigt, wieviel Sachverstand die Bevölkerung aufbringen, was für ein professionelles Niveau erreicht wird, wenn man den Bürger ernst nimmt. Ich hatte das anderswo im Zusammenhang mit der Wikipedia schon mal geschrieben: es ist so unglaublich viel Sachverstand in der Bevölkerung vorhanden, dass es eine Schande wäre, das ungenutzt zu lassen. Aber: natürlich muss es in Zukunft so sein, dass diese öffentlichen Anhörungen vor einer Entscheidung stattfinden. Nicht so wie in Stuttgart, wo die Entscheidung im Prinzip längst die gefallen ist, die Bahn schon Baurecht hat und das Projekt kaum noch zu verhindern ist.

Und so sollte in Zukunft Demokratie mindestens auf lokaler Ebene aussehen: Pläne frühzeitig öffentlich machen, Anhörungen mit Bürgern ernst nehmen, alle Vorgänge, Akten und Entscheidungsprozesse müssen offengelegt werden und transparent sein und am Ende muss der Bürger mitentscheiden. Ohne den letzten Punkt ist alles andere Makulatur.

Heiner Geißler selbst denkt auch, dass Entscheidungsprozesse heute anders ablaufen müssen als früher und sagt in seinem Schlichterspruch:

Einer der Hauptgründe für das Mißtrauen gegenüber der Politik ist die wachsende Undurchschaubarkeit der politischen und ökonomischen Vorgänge, wie sie sich in der zurückliegenden Finanzkrise gezeigt hat. Die totale Öffentlichkeit und Transparenz des Schlichtungsverfahrens sollte die Gegenposition zu praktizierter Geheimhaltung und Konservierung von Herrschaftswissen bilden. […] Die Schlichtung war daher auch moderne Aufklärung im besten Sinne von Immanuel Kant, nämlich die Menschen zu befähigen, sich aus „unverschuldeter Unmündigkeit“ zu befreien und dadurch „jederzeit selbständig denken“ zu können.

In der Presse, aber auch in den Parlamenten und Regierungen außerhalb von Baden-Württemberg wurde die Frage gestellt, ob die Bürger in Zukunft der Regierung und den Parlamenten nachträglich in die Parade fahren dürfen und dadurch die repräsentative Demokratie gefährden. Dies ist eine berechtigte Frage, aber in der Zeit der Mediendemokratie, mit Internet, Facebook, Blogs, einer Billion Webseiten und der Organisation von Zehntausenden Menschen per Mausklick kann die Demokratie nicht mehr so funktionieren wie im letzten Jahrhundert. Die Zeit der Basta-Politik ist vorbei, auch Parlamentsbeschlüsse werden hinterfragt, vor allem wenn es Jahre dauert, bis sie realisiert werden.

Wir brauchen nach meiner Auffassung in Deutschland eine Verstärkung der unmittelbaren Demokratie.

Piratenpartei erweitert ihr Programm

Spiegel Online betreibt offenbar Piraten-Bashing. An zwei Tagen hintereinander berichtet SpOn über die Piratenpartei und hinterher hat man tatsächlich das Gefühl, als ginge das alles drunter und drüber, die Partei stünde kurz vor der Selbstauflösung und auch ansonsten wäre das nur noch ein Haufen Chaoten.

Und tatsächlich scheint es da in letzter Zeit einiges an unnötigen Auseinandersetzungen gegeben zu haben. Ich habe mich schon eine Weile nicht mehr mit der Piratenpartei beschäftigt und so hatte ich nur am Rande mitbekommen, was zur Zeit da so abläuft.
An diesem Wochenende halten sie einen Parteitag in Chemnitz ab, bei dem es um das Parteiprogramm gehen soll. Aber glücklicherweise gibt es andere Medien, die ein wenig differenzierter berichten. Und danach ergibt sich ein anderes Bild. Demnach gab es wohl auch wieder unnötige und langwierige Diskussionen, aber ich würde das noch immer unter Geburtswehen bzw. Findungsprozess verbuchen.
Dabei sind Streitereien und lange Diskussionen normal und die Piraten haben offenbar noch einen ziemlich hohen Anteil an Trollen, die an einer konstruktiven Arbeit nicht interessiert sind oder nicht verstehen, dass eine Partei immer eine Einigung auf einen gemeinsamen Nenner mit Kompromissfindung ist. Das wird sich mit der Zeit geben und die Piraten wollen ja auch anders sein als die anderen Parteien und dann gehört das Diskutieren nunmal dazu. Diskussion und Streit sind nunmal ein Mittel zur Willensbildung und insofern ja auch wünschenswert – wenn hinterher auch ein Ergebnis herauskommt.

Die Piratenpartei erweitert ihr Parteiprogramm, z.Zt. um soziale Themen. Es geht um den Themenkomplex der sozialen Teilhabe in dieser Gesellschaft. Ich finde das einen richtigen Schritt. Datenschutz, offene Netze, Open Access und ein zeitgemäßes Urheberrecht sind unbestritten wichtige Dinge. Aber in Zeiten von Verwerfungen auf dem Finanzmarkt, Klimawandel oder dem Wiedereinstieg in die Kernenergie zeigt sich schnell, dass es noch andere Dinge gibt, die wichtig sind. Insofern ist eine Erweiterung des Themenspektrum gut und richtig.

Die Piratenpartei finde ich als Bewegung wichtig, um Themen rund um Bürgerrechte in der Informationsgesellschaft zu vertreten. Außerdem sehe ich bei ihnen das Experiment am Laufen, ob Basisdemokratie funktionieren könnte und wenn ja, wie man sie organisieren kann. Insofern hoffe ich, dass die Piraten sich fangen und weiterentwickeln.

Sarrazin und seine Angst vor Veränderungen

Auweia, die Sarrazin-Debatte wird ja immer wilder. Jetzt kommt auch noch das „Argument“ namens „Man wird ja wohl noch sagen dürfen, dass …“ Lieber Himmel, Herr Sarrazin darf es doch sagen. Er tut es sogar sehr öffentlich, in Pressekonferenzen, in Interviews, in Talkshows und bald auf einer Lesereise. Keiner verbietet ihm das Wort, sein Buch wird nicht zensiert, er wird nicht angeklagt o.ä. – kurz: er darf seinem Recht auf Meinungsfreiheit nachkommen. Davon macht er ja nun regen Gebrauch.
Aber zur Meinungsfreiheit gehört auch, dass andere auf das Gesagte reagieren und dass sie das Gesagte vielleicht sogar für hochgradigen Schwachsinn halten. Und in manchen Fällen gehört es auch dazu, dass man sich um Kopf und Kragen redet, Parteimitgliedschaft und den Posten im Vorstand der die Bundesrepublik repräsentierenden Bundesbank riskiert (womit man ihn finanziell auch nicht ruinieren dürfte).

Biologische Begründung ist schwachsinnig, aber soziologische Erklärung wird ignoriert

Sarrazins Kernthese ist ja: Deutschland wird ärmer und dümmer, weil die jetzt Dümmeren und Faulen mehr Kinder kriegen als die Klügeren und Fleißigeren. Weil sich außerdem Intelligenz vererbt, wird über kurz oder lang die „qualitative“ Zusammensetzung unserer Gesellschaft verkommt. Und weil die meisten Dummen und Faulen unter den Migranten zu finden sind, sind diese also unser Untergang. Kurzum: es bekommen die falschen Leute Kinder. Diese These ist nicht neu und hat schon früher zu einer gewissen Aufregung geführt.
Akademikerfrauen bekommen im Durchschnitt weniger Kinder als weniger gebildete Frauen. Das ist ein Fakt und lässt sich statistisch belegen. Gut, man könnte natürlich auch argumentieren (oder sich alternativ im eigenen Bekannten-/Familienkreis umhören, wenn man nicht die Bodenhaftung verloren hat), dass es für viele dieser fleißigen und klugen Menschen einfach unheimlich schwer ist, Kinderkriegen und Beruf unter einen Hut zu kriegen ist, wenn die Anforderungen nach Aus- und Weiterbildung im Job ständig steigen, Aufopferung und stetige Erreichbarkeit vorrausgesetzt werden.

Oder man könnte andere Erklärungsmuster zu Rate ziehen, die den oben beschrieben Bildungs-Geburtenratezusammenhang erhellen. Z.B. eher sozialwissenschaftliche Erklärungsmuster. Dass Bildungsunterschiede sehr häufig soziale Gründe haben, Migranten häufig aus eben jenen sozial schwächeren Schichten kommen und die Geburtenrate auch bei Migranten mit dem Ansteigen des Bildungsniveaus abnehmen. Könnte man.
Man kann aber auch sein Unwissen in Sachen Genetik und Biologie* zur Schau stellen und sich dann daraus eine Theorie zur Erblichkeit von Intelligenz/Fleiß/Interesse basteln: weil die Migraten ein bisschen doof sind, sie mehr Kinder produzieren und sich diese Doofheit vererbt, darum wird Deutschland bald auch doof sein. Damit verwechselt Sarrazin mal wieder Korrelation mit Kausalität: der Migrantenstatus korreliert im Durchschnitt mit dem schlechteren Bildungsniveau. Der Grund, die Kausalität, dafür ist bei Sarrazin die Herkunft, die Nationalität, ja vielleicht sogar die Religion (überhaupt reiht sich für mich die Debatte zu sehr ins gerade populäre Islambashing ein). Soziologische Erklärungsmuster lehnt er ab.
Ein weiteres Problem an Sarrazins Thesen ist ihre „gefühlte Richtigkeit“, die sich nicht eben mal so schnell widerlegen lassen. Wenn er Statistiken falsch interpretiert oder schlicht falsch wiedergibt, oder aber wenn er sich selbst welche ausdenkt.

Die Theorie, dass bestimmte Bevölkerungsgruppe bestimmte Eigenschaften haben und diese dann weitergeben, scheint zumindest unter alten Männern der SPD (hier: Klaus von Dohnanyi) weiter verbreitet zu sein, als ich dachte:

Sarrazins Behauptung, dass es besondere, kulturelle Eigenschaften von Volksgruppen gibt, kann heute niemand mehr mit Sachkenntnis bestreiten. Die amerikanische Enzyklopädie der Sozialwissenschaften nennt das social race: „soziale Rasse“. Sarrazin sieht nun bei Teilen islamischer Gruppen eine Ablehnung der Integration und darin Gefahren für unsere Bildungs- und Leistungsgesellschaft.

Was soll denn das heißen? Der Türke (der Muslim?) ist halt so, der ist nun mal ein bisschen faul, der kann nicht anders?! Ich gehe ja durchaus d’accord, dass es in anderen Länder andere Ansichten zu z.B. Pünktlichkeit, Arbeitseifer, Freundlichkeit etc. (um das Wort „Tugenden“ nicht zu verwenden) gibt. Aber ich würde das nicht auf „Volksgruppen“ als solche anwenden. Warum sollten Migranten nicht in einem anderen gesellschaften Umfeld diese veränderten Gepflogenheiten annehmen?

Angst vor Veränderungen

Ich finde ohnehin – und das spricht ja dafür, dass es besonders bei alten Leuten ein beliebtes Thema zu sein scheint -, dass hier die Themenbereiche Bevölkerung, Intelligenz und Tugenden allzu statisch gesehen werden. Wer hätte denn vor 200 Jahren, als in Europa noch überwiegend Analphabeten lebten, gedacht, dass wir mit den Nachfahren dieser Menschen heute am Beginn einer Wissensgesellschaft stehen. Für eine Evolution der Intelligenz ist dieser Zeitraum zu kurz. Oder anders gesagt: mit dem Bildungswesen von heute wären aus den damaligen vermeintlich dummen, aber eben nur ungebildeten Menschen auch schon die gleichen intelligenten Menschen wie heute hervorgegangen. Es hängt eben viel stärker von äußeren Einflüssen ab als von der genetischen Ausstattung. Oder besser: erst mit den richtigen äußeren Einflüssen kann das Potential der genetischen Ausstattung abgerufen werden. Dann die Sache mit den Tugenden, die ja auch bei Sarrazin explizit genannt werden oder zwischen den Zeilen durchschimmern: auch da ist nichts statisch. Oskar Lafontaine meinte ja mal, mit bestimmten in Deutschland beliebten Sekundärtugenden ließe sich eben prima ein KZ betreiben. Dahinter steckt ja nichts anderes, als dass sich Tugenden und gesellschaftliche Werte verändern, einige gewinnen, andere verlieren an Bedeutung. Rückblickend betrachtet ist das nicht mal so schlecht.
Und so würde ich Sarrazins Buch auch ein gutes Stück weit als Ausdruck einer großen Angst vor Veränderungen ansehen.

Und ja, zum Abschluss: wir können und müssen über Integration reden. Und wir tun das nun auch laufend. Kein Jahr vergeht ohne neue Integrationsdebatte. Das ist doch nun wirklich kein Tabu mehr. Aber die, die am meisten von mangelnden Integrationswillen der Migranten reden, die aus der schwarzen Ecke und alte SPDler, haben bis in die 90er Jahre von Gastarbeitern gesprochen und jegliche Debatte über Deutschland als Einwanderungsland verweigert. Und vielleicht steht es ja um die Integration sogar besser, als es uns die aktuelle Sarrazin-Debatte weißmachen will.

* Sarrazin hat diese Unwissenheit in Sachen Genetik/Molekularbiologie keineswegs exklusiv. Bei Berichten oder Diskussionen über z.B. Gentechnik tun sich ja regelmäßig Abgründe in der deutsche Presse, aber auch in Blogs auf.

Frau Kraft und der gemeinwohlorientierte Arbeitsmarkt

Die Aufregung um Hannelore Krafts Vorschlag vom Wochenende hat sich gelegt, nachdem bemerkt worden ist, dass Frau Kraft nicht den Westerwelle macht.
Den Anfang machte Spiegel Online, der mit der Überschrift „SPD-Vize Kraft fordert gemeinnützigen Einsatz von Hartz-IV-Empfängern“ suggerierte, die Kraft will Hartz-IV-Empfänger zum Straße fegen verpflichten. Aber das stimmt so nicht. Der im Interview mit dem „Spiegel“ geäußerte Vorschlag zielte darauf ab, nicht vermittelbaren Arbeitslosen ein Angebot einer Beschäftigung zu machen, damit diese nicht zu Hause rumsitzen. Dafür solle ein „gemeinwohlorientierter Arbeitsmarkt“ geschaffen werden, die Arbeitslosen bekommen einen „symbolischen“ Lohn, aber die Beschäftigung ist – im Gegensatz zu den 1-Euro-Jobs – langfristig angelegt.

Nachdem das alles bekannt war, legte sich die Aufregung und damit leider auch die ganze Diskussion. Dabei ist das Gesagte es inhaltlich durchaus wert, diskutiert zu werden. Darin wird nämlich der Traum von der Vollbeschäftigung begraben bzw. es wird vorsichtig angedacht, wie mit der zahlenmäßigen Diskrepanz zwischen vorhandenen Arbeitsplätzen und Arbeitskräften umgegangen werden könnte. Nämlich über einen öffentlichen Beschäftigungsektor.

Dennoch sind Vorschläge etwas unausgegoren bzw. in sich nicht schlüssig. Frau Kraft will Menschen dort für einen symbolischen Betrag arbeiten lassen, wo andere regulär angestellt sind. Also einerseits fegen die Leute von der Stadtreinigung die Straße und daneben stehen die „ehrenamtlichen“ Straßenfeger. Oder im Altersheim sitzen die angestellten Buchvorleser neben den „ehrenamtlichen“ Buchvorlesern. Wie soll das funktionieren? Warum dann nicht die Sache zu Ende denken und den öffentlichen Beschäftungssektor ausweiten? Arbeit ist ja genug da, nur sind das häufig keine marktfähigen Jobs.

Oder man will das wirklich über die ehrenamtliche Schiene machen. Dann muss man die Menschen – alle, nicht nur die Arbeitslosen! – in die Lage versetzen, sich aus freien Stücken zwischen der klassischen Erwerbsarbeit und dem nebenbei-ein-bisschen-was-tun-Ehrenamt zu entscheiden. Das geht nur über ein entsprechend hohes bedingsloses Grundeinkommen.