Die Grünen und ihr Problem, keine Verzichtspartei mehr sein zu wollen

Im Zuge des Parteitages lese ich gerade öfter, dass der geplante Veggieday für das schlechte Abschneiden der Grünen bei der letzten Bundestagswahl verantwortlich war. Ich halte das für großen Quatsch. Der Veggieday – also ein fleischloser Tag in der Kantine pro Woche – war nur der Aufhänger, dass die Presse den vermeintlich „wahren“ Charakter der Grünen als Verbotspartei anprangern konnte: Seht her, die Grünen gönnen euch euer Schnitzel/eure Currywurst nicht mehr. Im Sommerloch 2013 fiel das dann auf fruchtbaren Boden, die Medien hatten ein Thema und die Grünen waren mit der Kampagne überfordert. Wohl kaum einer hatte damit gerechnet, dass diese Forderung so ein Aufregerthema werden könnte. Allerdings halte ich die Wahlniederlage durch den Veggieday als Thema für eine Legendenbildung, vielmehr war es die Art und Weise, wie der Veggieday als reine Verbotsdebatte geführt wurde, ohne die Idee dahinter zu thematisieren.
Mich als langjährigen Grünenwähler hatten bei der letzten Wahl grün-schwarze Planspiele abgeschreckt. Ich wollte Merkel abwählen, nicht ihr mit Hilfe der Grünen eine weitere Legislatur ermöglichen. Andere haben sich vielleicht von Steuerplänen (z.T. Erhöhungen) abschrecken lassen. Wodurch auch immer, am Ende haben die Grünen 8,4% bei der BTW 2013 geholt. Damit liegt man am unteren Ende der letzten Bundestagswahl und wohl so ziemlich auf Stammwählerniveau. Aber – und das ist aus Sicht der Grünen wohl das traumatische daran – weit unter den Umfrageergebnissen Monate und Jahre davor. Mitte 2011 waren die Grünen bei etwa 25% (Fukushima-Bonus), Mitte Juli – zwei Monate vor der Wahl – stand man noch bei knapp 15%.

Nach ihrem Parteitag ist den Grünen das Essverhalten des Einzelnen „egal“:

Michael Kellner distanzierte sich deutlich vom Image der Verbotspartei: „Es soll niemandem befohlen werden, wie sie oder er zu leben hat. Wir Grüne diskutieren über gute Regeln, anstatt auf autoritäre Gebote zu setzen.“ Der Fokus liege dabei auf einer Veränderung der Strukturen und nicht des individuellen Verhaltens. […]

Eine knappe Abstimmung gab es zum Umgang mit dem Veggie-Day. Der Bundesvorstands formulierte in seinem Leitantrag, „ob jemand am Donnerstag Fleisch isst oder nicht, ist uns völlig egal.“ Rhea Niggemann aus dem KV Neukölln forderte diese Formulierung zu streichen, weil die hinter dem Veggie-Day stehende ökologische Überzeugung nach wie vor richtig sei. Toni Hofreiter betonte in seiner Gegenrede, dass der Veggie-Day die politische Auseinandersetzung auf die Verbraucher verlagern würde. Wichtiger sei es hingegen, ökologische Standards gegenüber der Industrie und den großen Konzernen durchzusetzen.

Strukturen ändern statt das Individuum zu verändern. Da wird für mich ein Widerspruch aufgebaut, wo keiner ist. Schlimmer: der Einzelne kann sich somit zurücklehnen und schiebt es auf „die Strukturen“. Aber ohne das Handeln des Einzelnen wird es nicht gehen, auch der kann Strukturen verändern: Macht des Verbrauchers und so. (Um nicht missverstanden zu werden: die Strukturen müssen selbstverständlich geändert, mich stört nur das entweder-oder bzw. das lieber-so-als-so.)
Am Beispiel Fleisch und Veggiday könnte man es folgendermaßen durchdeklinieren: Weil die Forderung auf Fleischverzicht so schlecht ankommt, ändern wir jetzt die Strukturen der Lebensmittelerzeugung. Dadurch wird Fleisch teurer und man kann sich seinen Konsum seltener leisten als vorher. Ergebnis ist das gleiche, nur konnte man für das Gemüse auf dem Teller vorher die Grünen direkt verantwortlich machen, jetzt ist es „das System“.

Das gute daran: am Ende ist das Ergebnis das gleiche – der Fleischkonsum ist geringer. Das schlechte daran: nicht mehr die Grünen werden dafür verantwortlich gemacht, sondern die dahinter liegenden Strukturen. Was das bedeutet, sieht man an der Energiewende. Weil die Preise um ein paar Cent steigen – was vorauszusehen war -, steht plötzlich das Image des Atomausstiegs auf der Kippe, die Energiewende wird madig gemacht und teilweise in Frage gestellt. Obwohl es der richtige Weg ist und angesichts der Endlichkeit fossiler Brennstoffe, dem Klimawandel und der unlösbaren Probleme bei der Kernkraft praktisch alternativlos ist.

Die Grünen waren immer eine Verzichtspartei. Die Grünen haben immer gesagt, wir können nicht so weiter machen wie bisher, wir müssen da umsteuern. Mehrheitsfähig war das noch nie. Die wenigstens hören gerne, dass ihr Lebensstil nicht nachhaltig ist*.
Verbote ziehen aber häufig eine Abwehrhaltung nach sich. Darum ist der Verzicht auf Verbote und Bevormundung sicher nicht ganz falsch und man kann unter Umständen sogar mehr erreichen – mehr Menschen und mehr Ziele. Besser wäre es, eine Idee zu entwickeln, im weiteren Sinne eine Vision zu entwerfen, wofür das ganze gut sein soll. Beispiel Energiewende: Deutschland könnte der Vorreiter für etwas sein, dass alle anderen noch vor sich haben. Wir könnten uns autark in Sachen Energie machen. Beispiel Verzicht aufs Auto: mit ÖPNV und Fahrrad ist man in der Stadt häufig schneller unterwegs. Gesünder ist es auch, weil man sich mehr bewegt. Beispiel Fleischverzicht: den Viecher tut eine weniger intensive Landwirtschaft gut, der Umwelt tut es gut und dem Menschen unter Umständen auch, besonders denjenigen, die ohnehin zuviel essen.

* Nette Anekdote am Rande: Eine Umfrage will herausgefunden haben, dass gerade Anhänger der Grünen am häufigsten das Flugzeug zu nutzen – das aus Klimasicht ungünstigste Verkehrsmittel.

Merkel: Kein too big to fail mehr

Für’s Protokoll: Ab sofort gibt es keine Banken mehr, die too big to fail sind. Hat die Merkel gesagt beim G20-Gipfel in Brisbane:

Nie wieder wird es notwendig sein, dass Steuerzahler dafür eintreten müssen, dass große Banken zusammenbrechen und dann praktisch ein erpresserisches Potential entwickeln und Steuerzahler diese Banken retten müssen.

Auch wenn es schön wäre, wenn es so ist: Ich glaube ihr kein Wort. Auch wenn die Banken jetzt mehr Eigenkapital vorhalten müssen, so sind bei weitem nicht alle Verbindlichkeiten mit Eigenkapital gedeckt.
Die nächste Bankenkrise wird kommen und wir werden sehen, was die Versprechungen und Neuregelungen wert sind.

Nachtrag: Der Münchhausen-Check von Spiegel Online kommt zum gleichen Ergebnis wie ich.

Linkdump Nr. 2

Handstreich im Bundestag: Wie Abgeordnete um 0:25 Uhr ein Bürgerrecht aushebelten. Manchmal geht’s ganz schnell und keiner merkt’s: das Informationsfreiheitsgesetz ist für Akten des Bundesrechnungshofes zu einer Kann-Bestimmung gemacht worden – ein Gummiparagraph also.

So fix geht das, wenn im Bundestag ein Bürgerrecht geschleift wird. In ihrer Nacht- und Nebelaktion beschloss die Allparteien-Koalition aus Union, FDP, SPD, Grüne und Linke nämlich, dass die Öffentlichkeit fortan kein grundsätzliches Einsichtsrecht mehr in Akten des Bundesrechnungshofs hat. Für Bürger und Journalisten sind nun ausgerechnet Prüfberichte jener Behörde tabu, die Transparenz beim Staat und in der Politik schaffen soll.

 

Was die Polizei alleine nicht schafft… Nichtdeutsch-Aussehende werden öfter von der Polizei nach ihren Ausweispapieren gefragt als andere. „Racial Profiling“ nennt sich das und ist auch in Deutschland gängige Praxis, obwohl es gegen den Gleichheitsgrundsatz verstößt.

Racial Profiling ist aber nicht nur gesetzeswidrig, sondern auch und vor allem demütigend und erniedrigend. Es ist ein Schlag gegen die Gerechtigkeit. Darum geht’s. Deshalb war es für mich kein Problem, während einer Reise von Luxemburg nach Paderborn einen Zwischenhalt in einer Trierer Polizeiwache hinzunehmen. Deshalb habe ich mich entschieden, zwei Polizisten in voller Montur sofortige Gehorsamkeit zu verweigern, obschon leider mehr als genug Beispiele zeigen, dass ein solches Verhalten schlimme bis tragische Folgen haben kann. Das muss jede Person wissen, die sich für einen solchen Weg entscheidet. Wer Gerechtigkeit will, muss bereit sein, ab und an richtig aufs Maul zu bekommen. Ich war heute Morgen 9 Uhr soweit. Ich bin dafür bereit. No justice, no peace! Gerechtigkeit bekommt man nicht als Sonderangebot im Schnäppchen-Center.

 

NSA speichert Telefongespräche eines ganzen Landes komplett. Jaja, ich weiß, die NSA ist mittlerweile ein running gag. Die NSA kann alle Telefongespräche eines Landes abhören, für einen Monat speichern und darin herumhören. MYSTIC nennt sich dieses Programm.

Das Programm um das es dabei geht nennt sich MYSTIC, existiert seit 2009 und bietet ein RETRO genanntes Tool zum beliebigen Rumhören in der aufgezeichneten Kommunikation. Analysten exzerpieren dabei das Gehörte und sorgen dafür, dass Millionen von Ausschnitten langfristig aufbewahrt werden. Erstmals eingesetzt wurde es 2011. Gegen welches Land es dabei ging, wird von der Washington Post aus Rücksicht auf US-Regierungswünsche nicht gesagt.

 

Blick aus der Blase. Die Süddeutsche Zeitung geht der Frage nach, ob die deutschen Medien einseitig anti-russisch in der Ukraine-Krise berichten. Und kommt – nicht überraschend – zu dem Schluss, dass dem so ist.

Schablonenhaft sei das Bild, das viele Medien von Putin zeichneten: Das eines hemdlosen Machos, der aus reiner Bösartigkeit und Größenwahn nichts lieber tue, als in fremde Länder einzumarschieren und das eigene Volk zu unterdrücken. Besonders fatal sei die stereotype Betrachtung Putins im gegenwärtigen Konflikt. Sicher, Putin habe in seinem Land ein autoritäres System installiert – „dafür kann es keine Entschuldigung geben“. Aber dass ausgerechnet US-Politiker und -Medien ihm einen Bruch des Völkerrechts vorwerfen, sei scheinheilig – einer Argumentation, der auch die deutsche Linke folgt, wie etwa Gregor Gysi oder Sahra Wagenknecht.

 

Es gibt nur den Weg der Diplomatie. Gregor Gysi mit einer sehenswerten Rede im Deutschen Bundestag über die Ukraine-Krise. Die einzige Oppositionsrede und Gysi bohrt dabei sehr tief in den Wunden des Westens.

Und wo ich schon bei Guck-Empfehlungen bin: Die „Anstalt“, der Nachfolger der Kabarettsendung „Neues aus der Anstalt“, ist gut, sehr gut sogar, um Längen besser als der Vorgänger nach dem Abgang von Georg Schramm. Bissig, böse und politisch. Wütendes Politkabarett gibt’s also auch noch nach Georg Schramm. Die erste Sendung lief schon im Februar, die zweite jetzt kürzlich am 11. März. Neben dem aktuellen Teil mit Ukraine-Krise nehmen sie der letzten Sendung die Riester-Rente und das gleichzeitige systematische Schleifen der staatlichen Rentenversicherung aufs Korn. Sehr anschaulich das Ganze.

Der Parlamentsvorbehalt bei Einsätzen der Bundeswehr soll geschwächt werden

Der nächste Baustein auf dem Weg zur Militarisierung der Außenpolitik:  Jetzt soll am Parlamentsvorbehalt für Kampfeinsätze der Bundeswehr gesägt werden. Dafür wurde eine Kommission eingerichtet. Vorsitzender wird der ehemalige Verteidungsminister Volker Rühe sein. Kommissionen werden in der Regel dann eingerichtet, wenn die Politik zu feige ist, selbst unbequeme Entscheidungen zu treffen. Also schafft man sich selbst einen Sachzwang. Schon der Titel der Kommission ist der reine Hohn: „Kommission zur Überprüfung und Sicherung der Parlamentsrechte bei der Mandatierung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr“ nennt sie sich. Sicherung der Parlamentsrechte? Wozu Sicherung? Sie sind ja da und wenn man alles so belassen würde, wären sie auf ewig da. Das Gegenteil soll ja erreicht werden: die Parlamentsrechte sollen beschnitten werden. So heißt es dann im Beschlussantrag aus dem Deutschen Bundestag von den Regierungsfraktionen aus CDU/CSU und SPD zur Bildung der Kommission: „Die Arbeit der Kommission sollte sich auf folgende Aspekte konzentrieren“:

[…] – Untersuchung von Möglichkeiten der Abstufung der Intensität parlamentarischer Beteiligung nach der Art des Einsatzes unter voller Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts; […]

Auf gut Deutsch: Bei welchen Einsätzen lässt sich der Parlamentsvorbehalt so umgehen, dass es gerade noch grundgesetzkonform ist. In der Kommission sitzen 16 Mitglieder, 4 davon werden von der Opposition entsandt. Die Gelegenheit zur Neuausrichtung der Parlamentshoheit über die Bundeswehr ist auch günstig: Wollte man den Parlamentsvorbehalt beseitigen, müsste das Grundgesetz geändert werden. Da trifft es sich ja gut, dass die Kommission zu einer Zeit eingesetzt wird, in der die Regierungskoalition 80% der Sitze im Bundestag innehat und damit problemlos eine Verfassungsänderung umsetzen kann. Ich gehe davon aus, dass am Ende die Kommission eine Schwächung (verkauft als Flexibilisierung oder Neustrukturierung, Anpassung oder andere Euphemismen) des Parlamentsvorbehalts empfehlen wird, auch wenn jetzt alle das Gegenteil behaupten. Wahrscheinlich wird ein Kompromiss herauskommen: die Regierung darf die Entsendung bestimmen, das Parlament behält das Recht zur Rückholung. Es ist naiv zu glauben, dass so etwas politisch umsetzbar wäre. Die Kanzlerin verspricht den Einsatz der Bundeswehr und das Parlament stellt die deutsche Regierungschefin vor der Weltöffentlichkeit bloß?! Ist das vorstellbar? In internationalen Angelegenheiten zeigt ja selbst die Opposition Beißhemmung. Bei den Eurorettungsschirmen lief es doch schon genau nach diesem Muster ab. Die Regierungschefs kungeln die Entscheidungen aus, das Parlament soll es dann absegnen. Und tut es eben auch. Auch die Opposition hat im Bundestag für die Rettungsschirme gestimmt. Glaubt doch wohl keiner, dass das im Falle eines Kriegseinsatzes (aus „humanitären Gründen“) anders ablaufen würde.

Parlamentsvorbehalt als Klotz am Bein?

Die Unionsfraktion, die in der Sache das Tempo vorgibt, macht auch schon mal klar, dass der Weg in Richtung Schwächung geht:

Der stellvertretende CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Andreas Schockenhoff wies in der Debatte darauf hin, dass dieses Konzept umfassender Aufgabenteilung nur funktionieren wird, wenn die Partner sich darauf verlassen können, dass Deutschland mit seinem breiten militärischen Fähigkeitsspektrum grundsätzlich zu einem Einsatz seiner Streitkräfte bereit ist, wenn EU oder NATO einen solchen beschließen. Sonst wären „Pooling und Sharing“ nur leere Worthülsen. […] Daher muss die Kommission Wege aufzeigen, wie einerseits das Parlamentsrecht bei fortschreitender Bündnisintegration gewahrt werden kann,  wie andererseits das Vertrauen in die Zuverlässigkeit im Bündnis sichergestellt werden kann. Dafür soll sie ein Spektrum von Instrumenten entwickeln, mit denen das Spannungsverhältnis aufgelöst werden kann. Als denkbare Möglichkeiten werden unter Fachleuten bereits Vorabzustimmungen in Verbindung mit dem bereits existierenden Rückholrecht, befristete Einspruchsmöglichkeiten, Berichtspflichten oder die Einrichtung von spezifischen Gremien diskutiert. Auch über eine Weiterentwicklung der abgestuften Parlamentsbeteiligung– je nach Tragweite des Einsatzes – wird nachgedacht.

Aus Sicht der Regierung ist es halt wahnsinnig unpraktisch, dass man immer das Parlament fragen muss, ob die Armee eingesetzt werden darf. International kann man dann eben keine verbindlichen Zusagen machen und das geht dann eben nicht zusammen mit dem Wunsch, jetzt in jeglicher Hinsicht ein global player sein zu wollen. In meinen zieht die die Argumentation, warum man den Parlamentsvorbehalt beschneiden will, höchstens auf den ersten Blick. Eine gemeinsame europäische Armee („Pooling“) mit verteilten Aufgaben („Sharing“) ist natürlich nur dann handlungsfähig, wenn im Falle eines Falles alle mitmachen. Ist natürlich doof (für den Rest der Armee), wenn z.B. 2/3 der AWACS-Besatzung aus Bundeswehrsoldaten besteht und die im Kriegseinsatz dann nicht fliegen dürfen. Auf den zweiten Blick zeigt sich allerdings, dass dieses Dilemma erst entsteht, weil es sich um eine Interventionsarmee und kein reines Verteidigungsbündnis handelt. Darum geht es eigentlich: um Kriegseinsätze außerhalb des NATO-Raums. Es geht um rechtlich und politisch höchst umstrittene Einsätze. So umstritten, dass es nicht selbstverständlich ist, dass nicht jeder mitmacht. Wie im Fall Irak, Afghanistan oder zuletzt Libyen und Syrien.

Diskussion ist nicht neu

Sollte der Parlamentsvorbehalt geschwächt werden, würde das das die Konstitution der Bundesrepublik verändern. Die Diskussion darum ist übrigens nicht neu. Schon 2003 gab’s darüber eine Diskussion mit den jetzt wiederkehrenden Ideen „Vorratsbeschluss“ und „Rückholrecht“. Das war zu Zeiten von Rot-Grün. 2007 dann machte eben jener Andreas Schockenhoff – der auch jetzt die treibende Kraft hinter dem Ganzen ist -, den Vorschlag für ein „Vorratsbeschluss“mit Rückholrecht (oder eben ein Ermächtigungsgesetz) für die Bundesregierung in Sachen Bundeswehrkontingenten. Daraus wurde damals nichts. Nun also ein erneuter Anlauf, mit erdrückend breiter parlamentarischer Mehrheit, begleitet von einer Kommission. Interessant ist auch, dass die Diskussion bereits von einer Fachkommission geführt worden ist: von der Kommission „Europäische Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr“ am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH). Die kam vor ein paar Monaten, im Dezember 2013, zu einem Fazit:

Das ParlBG [Parlamentsbeteiligungsgesetz] stellt keinen Ballast für eine effektive Sicherheitspolitik dar. Es verhindert auch nicht per se eine stärkere militärische Integration im Bündnis oder in der EU. Es stellt vielmehr eine höchstrichterlich bekräftigte Forderung an unser demokratisches Gemeinwesen dar, wenn es um die schwerwiegende Frage des Gewaltmitteleinsatzes geht. Dies gilt insbesondere dann, wenn es sich um solche Situationen handelt, die nicht durch das Recht auf Selbstverteidigung gedeckt sind. Im Idealfall verhindert die Parlamentsbeteiligung übereilte Entscheidungen, ermöglicht öffentliche Kontrolle, erhöht die Legitimität des Einsatzes und stärkt die Sicherheit Deutschlands.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Komission von CDU/CSU und SPD zu einem anderen Ergebnis kommen wird.

Der sichtbare Verlust außenpolitischer Glaubwürdigkeit des Westens

Auweia, in der momentanen Krise um die Ukraine kann man ja nur froh sein, solche Politiker nicht im Kalten Krieg gehabt zu haben. Mit denen hätte der 3. und dann wohl auch endgültig letzte Weltkrieg der Menschheit schon längst stattgefunden. Alle Seiten – Russland, der Westen mit EU, NATO und USA, die Ukraine selbst – benehmen sich wie die Kinder. Keiner von beiden will nachgeben, jeder sieht nur sich und glaubt daran, allein im Recht zu sein.

Putins faktische Besetzung der ukrainischen Halbinsel Krim dürfte völkerrechtswidrig sein. Die Kritik ist also angebracht. Aber: der Westen kann nicht mehr glaubwürdig dagegen argumentieren. In den letzten Jahren, im Namen des Kriegs gegen den Terrorismus und um Rohstoffe, haben sich EU, NATO und besonders die USA um jede Glaubwürdigkeit gebracht. Der auf Lügen aufgebaute Krieg im Irak, Geheimgefängnisse überall auf der Welt, Guantanamo, Drohnenangriffe auf Gebieten von souveränen Staaten, die Duldung illegaler Siedlungen in Pälestina – damit verliert der Westen das Recht, mit dem erhobenen Zeigefinger nach Russland zu blicken.

Das ist das Ergebnis des Handelns der letzten Jahre: der Westen hat unmoralisch und oft genug völkerrechtswidrig gehandelt (oder mindestens das Völkerrecht seeehr weit gedehnt) und kann dadurch nicht mehr bewahrende Instanz eben dieser internationalen Rechte auftreten. Wer selber dieses Recht nicht achtet, kann nicht mehr sein Verteidiger auftreten. Das Schlimme daran: es ist keine andere Instanz als Ersatz erkennbar. Die UNO hat weder die politischen noch die militärischen Mittel dazu.

Ich bin über erkennbaren Unwillen zu diplomatischen Lösungen entsetzt. Das alte Freund-Feind-Denken, das alte Block-Denken ist wieder da. Einerseits wird Russland noch immer als der Feind gesehen und andererseits versucht man gar nicht, sich in Russland strategische Überlegungen hineinzuversetzen. Die Krim ist seit Jahrhunderten ein wichtiger Militärstandort für Russland, den geben die Russen nicht auf. Die Gefahr des Verlustes war aber real, weil sehr westlich orientierte Politiker in der Ukraine nicht nur mit der EU sondern eben auch mit der NATO geliebäugelt hatten. NATO-Truppen, NATO-Waffen auf der Krim – das würde Russland nie akzeptieren in Zeiten wie diesen. Insofern war Putins jetzt gezeigte Härte abzusehen.

Linkdump Nr. 1

Heuchelei plus Populismus. Georg Diez in seiner Kolumne auf Spiegel Online über den Umgang der SPD mit Sebastian Edathy und wie beim Thema Pädophilie und Kinderpornografie der Wunsch, irgendetwas tun zu müssen, zu einem Rückfall in „archaische Rituale der Ausgrenzung“ führt.

Der Pädophile ist der Teufel unserer Tage. Er hat keine Rechte mehr, er hat keine Würde mehr, es reicht der Verdacht, um ihn zu erledigen: Der Pädophile ist der Feind, auf den sich alle einigen können.

Er wird ausgestoßen aus der bürgerlichen Gesellschaft, ausgestoßen aus der Partei, die ihm doch Heimat und Halt sein sollte – und es ist schwer nachvollziehbar, wie die SPD es mit ihrem Selbstbild verbindet, dass sie jemanden, der am Boden liegt, auch noch tritt.

Wo aber bleiben Gedanken wie Therapie, Hilfe, Resozialisation, eine andere Art, mit gesellschaftlichen und individuellen Problemen und Missständen umzugehen, als Überwachen und Strafen?

 

Die Mär vom Miliardenmarkt. Alvar Freude geht der Frage nach, woher das Gerücht „Milliardenmarkt Kinderpornografie“ kommt und findet nur erfundene Zahlen, die dann weiterverbreitet werden. Ergebnis:

Sprich: es gibt keinerlei belastbare Quelle für die Behauptung eines 18 oder gar 20 Milliarden US-Dollar großen Marktes. Einer plappert die „Schätzung“ des anderen nach, reißereische Zahlen werden veröffentlicht, seriöse Untersuchungen gehen unter.

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Privatheit im Internet darf keine Privatsache sein

Hans Magnus Enzensberger gibt Tipps, wie wir in Zeiten wie diesen der Überwachung auf Schritt und Tritt unsere Privatssphäre bewahren können:

Für Leute, die keine Nerds, Hacker oder Kryptographen sind und die Besseres zu tun haben, als sich stündlich mit den Fallgruben der Digitalisierung zu befassen, gibt es zehn einfache Regeln, wie sie sich ihrer Ausbeutung und Überwachung widersetzen können […]

Und dann geht’s los: Handy und Kreditkarten wegwerfen, Onlinebanking und E-Mails vergessen, Internetshopping einstellen, Facebook, Google und Amazon vermeiden.

Natürlich ist das Satire. Kriegen leider einige nicht mit. Hätte Enzensberger noch dazu geschrieben, alle sollen Strom und fließend Warmwasser abstellen und nur das selbstgezogene Gemüse aus dem eigenen Garten essen, wäre es vielleicht noch deutlicher geworden, was er mit dem Text sagen möchte: Wir können nicht mehr zurück. Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem der Einwand, man könne ja auf sowas wie Handys oder Onlineeinkauf und -banking verzichten, nicht mehr zieht. Das wäre genauso, als würde man jemanden sagen, er solle aufs Telefon, auf Strom und Zentralheizung verzichten.

Wenn wir uns darin einig sind, dass wir ohne Internet und Datenvernetzung nicht mehr können (oder nicht mehr wollen, so wie es ohne Strom zwar auch geht, aber arg unpraktisch ist), dann ergeben sich auch andere Konsequenzen daraus: Wir müssen endlich aufhören, das Internet als kleine Spielerei zu betrachten, in dem wir unsere Freizeit verbringen. Das Dingen aus vernetzten Rechnern ist ein zentraler Infrastrukturteil unserer Gegenwartswelt geworden und dafür gehören eben auch zeitgemäße demokratische Regeln aufgestellt: Was geht und was nicht geht, welche Daten benutzt werden dürfen und welche nicht. Von Enzensberger stammt ja auch der Ausdruck von den „postdemokratischen Zuständen“ im Zuge der publik gewordenen flächendeckenden Überwachung des Internets durch die Geheimdienste.

Wir haben ein Recht darauf, dass Regeln für den Datenschutz im Internet eingehalten werden, dass nicht alles gespeichert und ausgewertet werden darf, was möglich ist. Und wir haben auch ein Recht darauf, dass es der normale Bürger kann und nicht nur „Hacker, Nerds und Kryptographen“. Um bei meinem Strom-Bild zu bleiben: eine Steckdose ist so simpel, für die sichere Benutzung muss ich kein Elektriker sein. Stecker rein – fertig. Idiotensicher. Datenschutz darf keine Privatsache sein, keine Sache individueller Sachkunde. Darum muss das Problem auch politisch gelöst werden und weniger durch die Verschlüsselung privater E-Mails oder das Nutzen von https.

Am Ende mahnt Enzensberger dann zum Handeln:

Der Schlaf der Vernunft wird bis zu dem Tag anhalten, an dem eine Mehrheit der Einwohner unseres Landes am eigenen Leib erfährt, was ihnen widerfahren ist. Vielleicht werden sie sich dann die Augen reiben und fragen, warum sie die Zeit, zu der Gegenwehr noch möglich gewesen wäre, verschlafen haben.

Neue Kategorie: Verlinktes

Es gibt eine neue Kategorie hier bei mir im Blog: Linkdump. Dort werde ich regelmäßig Links zu Seiten sammeln, die ich für interessant und auch über den Tag hinaus wichtig halte und normalerweise nur den Weg in meine persönliche Bookmarkliste im Browser finden. Dazu ein kleiner Kommentar.

Warum mache ich das? Weblogs sind ja dem Wortsinne nach Logbücher der eigenen Internetstreifzüge. Jedenfalls waren sie das anfangs mal, bevor Blogs zu den Webjournalen wurden, die sie heute sind. Das Verlinken finde ich aber sehr sinnvoll, es ist das, was das Netz ausmacht, was es erst zu dem macht, was es ist. Außerdem lese ich bei anderen Blogs auch gerne diese Linklisten, ich habe darüber viele gute und interessante Artikel, Webseiten und Blogs entdeckt.

Zersetzung: Die neue Qualität im Geheimdienstskandal

In Sachen weltweiter und flächendeckender Überwachung der Kommunikation durch die britischen und US-amerikanischen Geheimdienste GCHQ und NSA haben wir eine neue Qualität erreicht. Bisher ging es „nur“ um das Abschnorcheln und Abhören, jetzt geht es um Manipulation; bisher war alles mehr oder weniger passiv, jetzt tut der Geheimdienst aktiv etwas. Und bisher stand ja der britische Geheimdienst GCHQ immer ein bisschen im Schatten der NSA, eigentlich zu Unrecht, denn die Briten sind mit ihrem Programm „Tempora“ noch gieriger auf Daten als die Amis mit „PRISM“.

Glen Greenwald hat neue Dokumente aus der JTRIG-Abteilung aus den Snowden-Leaks auf seiner neuen Plattform „The Intercept“ veröffentlicht und dabei geht es um nichts weniger als um die gezielte Diskreditierung einzelner Personen oder Unternehmen. Vor ein paar Wochen gab es schon mal Informationen aus der JTRIG-Abteilung In seiner Boshaftigkeit und Niederträchtigkeit überflügelt das alles vorher bekannte bestätigt einmal mehr, was bisher nur aus Verschwörungstheorien oder Spionagefilmen bekannt war. Zum einen geht es bei dem Programm darum, alle möglichen falschen Informationen ins Internet zu stellen, um die Reputation einer Zielperson zu zerstören. Zum anderen sollen über gesellschaftliche und soziale Mechanismen Meinungen und Aktivitäten im Sinne des Geheimdienstes beeinflusst werden. Personen sollen in Fallen gelockt, falsche Fotos sollen gepostet, Personen sollen mit falschen Vorwürfen (z.B. in Blogs oder Foren) kompromittiert und Freunde, Kollegen und Nachbarn sollen via E-Mails und SMS mit falschen Informationen gefüttert werden. Unternehmen sollen mit der Weitergabe von geheimen Daten an die Presse, Veröffentlichen von negativen und dem Zerstören von Geschäftsbeziehungen ruiniert werden.
Zur Meinungsmanipulation werden falsche Dinge behauptet, die aber plausibel zu sein scheinen, bis z.B. über selbstverstärkende Effekte immer mehr Menschen daran glauben und aus dem Glaube dann Gewissheit entsteht. Oder es wird einfach Misstrauen gesät, so dass am Ende keiner mehr dem anderen vertraut oder glaubt und alle übereinander herfallen. Solche Dinge braucht man ja häufig nur anzustoßen, dann entwickelt sowas über soziale Netzwerke eine Eigendynamik, die am Ende nicht mehr aufzuhalten ist.
Wer sich jetzt nicht gruselt und dringend eine für Abschaffung dieser Geheimdienste ist, dem ist nicht mehr zu helfen. Hier kann man ja auch nicht mehr argumentieren, irgendwen vor igendetwas zu schützen. Hier wird die Gesellschaft vergiftet.

Das ganze folgt den 4 D’s: deny, disrupt, degrade, deceive: leugnen, (zer-)stören, erniedrigen, täuschen.

Der Knaller aber: hier geht es nicht um Terrorismus oder sonstige Schwerverbrechen. Nein, hier geht es „normale“ Menschen, denen man sonst nichts kann und denen man auch keine Straftaten nachweisen kann. Es geht also um Rufmordkampagnen gegen unschuldige Bürger, die aber aus welchen Gründen auch immer politisch im Weg stehen. Explizit genannt werden dabei sog. „Hacktivisten“.
Um das mal historisch einzuordnen: mit dieser Taktik ist man ganz nah an politisch motivierten Geheimdiensten wie z.B. der Stasi und ihrer Strategie der Zersetzung. Und da soll noch jemand behaupten, „wir“ seien die Guten.

Was tut unsere Regierung? Tut so, als sei nichts gewesen. Kanzlerin Merkel war gerade bei Cameron in GB – und redet ein bisschen über Europa -, Außenminister Steinmeier ist auf Besuch in den USA – und möchte von dem Thema gar nichts mehr wissen und redet lieber über einen „Neuanfang“. Nein, nein, von der Regierung ist nichts zu erwarten in dieser Hinsicht, die Regierungen untereinander werden das Geheimdienstskandal nicht lösen, weil es aus ihrer Sicht keinen Skandal gibt.

Bundespräsident Gauck arbeitet weiter an Militarisierung der deutschen Außenpolitik

Auf der Münchner Sicherheitskonferenz hat die Neuausrichtung der deutschen Außenpolitik begonnen – hin zu mehr militärischer Gewalt. Für Gauck ist Thema offenbar keine Eintagsfliege. Jetzt hat er der Deutschen Welle ein Interview gegeben, das den gleichen Tenor hat wie seine Rede in München.

Im Ernstfall bedeute die Verantwortung aber auch, in Absprache mit der internationalen Gemeinschaft Soldaten zu entsenden. „Dieses erwachsene Deutschland, das ein Garant für Stabilität und Demokratie ist, darf sich nicht verstecken.“ Es sei nicht gut, wenn Waffen sprechen, betont Gauck, „aber manchmal ist es noch schlechter, wenn die Guten ihre Waffen verstecken und den Bösen ihre Waffen lassen.“

Sind wir also wieder in den Kategorien „Gut“ und „Böse“ angekommen. Nicht lange her, da war diese naive Einordnung in Deutschland und Europa verlacht worden, als George W. Bush seine religiöse Kleingeistigkeit hinter dem Begriff „Achse des Bösen“ versteckte. Gut und Böse – das scheint irgendwie bei den Bibeltreuen ein anerkanntes Denkmuster zu sein.
Interessant auch, wie er weiter am Neusprech für dieses Wendemanöver arbeitet. Es ist viel von „Verantwortung“ übernehmen die Rede oder dass wir uns „nicht verstecken“ oder „nicht kleiner machen“ sollten als wir sind. Ganz so, also wüchse aus einer ökonomischen Kraft gleichfalls die Pflicht zur militarisierten Außenpolitik. Eigentlich hätten wir gemessen an unserer Größe schon längst militärisch mitmischen müssen in der Welt. Aber – leider, leider – stand uns da unsere Geschichte im Weg. Nun aber war Deutschland lange genug im Abklingbecken für ehemalige Diktaturen und jetzt endlich können wir mitspielen.

Bisher dachte man ja immer, Deutschland wirklich gelernt aus der Geschichte – nicht nur aus seiner eigenen Geschichte. Gelernt, dass Krieg nie die Lösung ist, dass es die Lösung nur verzögert und eine Lösung immer politisch passieren muss.
Und natürlich machen wir das nicht alles allein, nein, nein, sondern im Verbund mit anderen. Als wenn es dadurch besser wäre. Ein Raubüberfall wird nicht weniger schlimm, wenn man ihn in einer Gruppe Gleichgesinnter unternimmt. Und „in der Regel“ (!) passiert das auch mit einem Mandat.

Achja, in den deutschen „Qualitätsmedien“ wurde Gaucks Rede positiv aufgenommen. Sagt Dagmar Engel, Interviewerin und Leiterin des dw-Hauptstadtstudios. Nur abseits dieser Qualität, also z.B. in gammeligen Blogs wie diesem hier, da gab es Kritik. Da wurde Gaucks Rede in einer Linie mit Kaiser Wilhelm gesehen. Ganz viel Hurra zu einer stärkeren militärischen Rolle Deutschlands in der Welt von seiten der Öffentlichkeit und der veröffentlichten Meinung gab es schon mal: vor 100 Jahren. Insofern bin ich dann gerne kein „Qualitätsmedium“.