Archiv für den Monat: August 2006

Mehr bezahlen, woanders sparen und Verzicht üben

Gestern war noch die Rede davon, dass „leistungsfähige Patienten“ mit einem „ordentlichen Gehalt“ künftig mehr Zuzahlungen leisten sollen. Davon ist heute schon keine Rede mehr von. Man lässt einfach das „ordentliche Gehalt“ weg und weitet den Zuzahlungsvorschlag einfach auf alle Patienten aus.

Der Vorstoß des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Günther Oettinger (CDU), die Zuzahlungen von Patienten anzuheben, ist auf Beifall in der Wirtschaft und auf heftige Kritik der Opposition gestoßen.

Ja, so geht das: Einen Vorschlag für eine begrenzte Klientel machen, dieser wird sich schon von ganz allein auf alle ausdehnen. Wahrscheinlich wird man sich erst wieder daran erinnern, dass es nur um Gutverdiener ging, wenn die Diskussion zu heftig wird.

Steinbrück empfiehlt derweil schon mal, statt in den Urlaub zu fahren, das Geld fürs Alter und die Gesundheitsversorgung auf die Seite zu legen. (Dass in Zukunft für einen immer länger werdenen Lebensabend auch mehr Eigenvorsorge zu treffen ist, kann ja kaum bestritten werden. Ich könnte aber kotzen, wenn Politiker von oben herab erzählen, woher das Geld genommen werden soll. Das ist an Arroganz gegenüber den Bürgern und Ignoranz ihrer Lebensverhältnisse kaum zu überbieten.)

Onkel Oettinger macht Witze

Der leistungsfähige Patient, der über ein ordentliches Einkommen oder Vermögen verfügt, sollte stärker als bisher Spitzenleistungen der Medizin auf dem Markt einkaufen, ohne Absicherung über die Krankenkasse.
Günther Oettinger zur Reform der Krankenversicherung

Ha, da dachte ich immer, wer gut verdient, ist eh raus aus der gesetzlichen Krankenversicherung und versichert sich privat.

War Libanon nur der Anfang?

Diese Frage stellte sich Georg Meggle in der Telepolis vor ein paar Tagen. Er entwarf dabei ein Szenario, dass der Libanonkrieg lediglich ein Vorspiel für einen Angriff der USA auf Syrien bzw. den Iran sei. Demnach war der Krieg im Libanon keineswegs eine spontane Reaktion auf die entführten israelischen Soldaten, sondern ist Präventivschlag mit Blick auf einen Krieg im Iran zu sehen. Nach diesem Szenario kommt die kürzlich verabschiedete UN-Resolution 1701 Israel gerade recht, denn das Land hat nun Ruhe im Norden, trotzdem werden dort keine Truppen gebunden und der Kampf kann die Bevölkerung nicht mehr belasten:

[4.11] Wichtig für die USA und Israel ist mit Blick auf die Irankriegs-Perspektive, dass diese Lösung noch vor dem Irankrieg implementiert ist. Denn nur dann ist der Hauptzweck des Libanonkrieges erfüllt: Im Krieg gegen Iran (und Syrien) wird Israels Nordgrenze von UN-mandatierten Truppen geschützt.

Kein Wunder also, dass der entsprechende franko-amerikanische Vorschlag für die anstehende UN-Resolution über ein Ende der Feindseligkeiten im Libanon in Israel Begeisterung ausgelöst hat.
(Georg Meggle, Telepolis, 08.08.06)

Ein Teil des Szenarios, der nicht ganz unvorhersehbar war, ist also schon mal eingetreten. Was nicht heißen muss, dass der Rest nun auch eintritt.

Seymour Hersh beschreibt im US-Magazin „New Yorker“ ganz ähnlich, dass der Libanonkrieg lediglich eine Vorbereitung für einen Krieg der USA mit dem Iran und bereits von langer Hand von Israel und den USA geplant war (besprochen wird der Text auch u.a. bei Telepolis und Spiegel Online). Man habe im Libanon Waffen und Strategien testen wollen, die dann gegen den Iran zum Einsatz kommen oder nicht (wenn sie sich nicht bewährt haben).

Klingt alles nach Verschwörungstheorie? Hmm, mag sein. Aber man kann kaum bestreiten, dass es im Libanonkrieg nicht mehr um die entführten Soldaten ging. Und die Zerstörung der Infrastruktur des Libanons (Straßen, Brücken, Flughafen, Energieversorgung) dient weder der Befreiung der Soldaten noch der Entwaffnung oder „Vernichtung“ der Hisbollah. Wie viel letztlich an den spekulierten Szenarien dran ist, wird die Zukunft zeigen.

Grass – eigene Vergangenheit und Moral

Günter Grass wurde also 1944 als 17-Jähriger zum Volkssturm in eine Einheit der Waffen-SS einberufen. Das sagt er uns erst jetzt, in einem Interview mit der FAZ.

In diesem Interview redet er über die Themen seines Buches „Beim Häuten der Zwiebel“, in dem er seine Jugend beschreibt. Sein Eingeständnis ist also keine PR für das, sondern es ist Teil des Inhaltes seines Buches. Spätestens wenn das Buch herausgekommen wäre, hätte es in allen Zeitungen gestanden, dann wäre die Bombe eh geplatzt und der Tanz in den Feuilletons nicht weniger heiß gewesen. Trotzdem unterstellt die Judenzentralratspräsidentin Knobloch einfach mal, es handele sich um PR.

Auch andere Kritiker Grass‘ kriechen jetzt aus ihren Löchern und braten ihm kräftig eins über: Henryk Broder und der Michael Wolffsohn zum Beispiel sprechen ihm gleich jede moralische Glaubwürdigkeit ab. Broder meint gar, Grass rede „fast immer […] Unsinn“. Jaha, na endlich können sie mal auf das pfeifenrauchende Plappermaul draufhauen, jippie.

Grass war derart damit beschäftigt, Pinter zu preisen und die USA zu verdammen, dass er keinen Satz, kein einziges Wort über den iranischen Präsidenten Ahmadinschad verlor, dessen Drohung, Israel von der Landkarte zu tilgen, ihm unmöglich entgangen sein konnte.
(Broder, Spiegel Online, ebd.)

Der Herr Broder zählt zwar auch niemals die Verbrechen der USA oder Israels mit auf, wenn er über Ahmadinschad schreibt, aber von Grass kann man das natürlich eben mal so verlangen.

Sicher doch hätte Grass früher mit seiner Geschichte der Zugehörigkeit der Waffen-SS rauskommen müssen, keine Frage. Seine Kritik an anderen, sich nicht gut genug ihrer Nazivergangenheit auseinandergesetzt zu haben, ist natürlich dadurch entwertet weil doppelzüngig. Nichtsdestotrotz bleibt Grass‘ Kritik richtig und er hat auch nie einen Hehl daraus gemacht, für die Ideologie der Nazis empfänglich gewesen zu sein.

Frank Schirrmacher, von dem ich sonst nicht viel halte, hat in diesem Fall recht, wenn er sagt, Grass hat den richtigen Zeitpunkt verpasst. Gelegenheiten hätte er genug gehabt, genutzt hat er davon keine – so sieht’s wohl aus. Grass wollte es dann doch ans Licht bringen, bevor es ein anderer tut und Grass womöglich posthum entwertet wird. Jetzt kann er diese Debatte noch selbst mitbeeinflussen.

Die moralische Instanz Grass ist aber für mich keinesfalls am Wanken. So groß war sie für mich eh nicht. Aber dass man jetzt seine sämtlichen Kommentare zu Themen der Zeitgeschichte, zu Politik und Gesellschaft „entwertet“ sieht, ist absurd. Er war einer der weniger Intellektuellen in Deutschland, die sich zu aktuellen Themen zu Wort gemeldet haben. Man muss ja nicht mit seiner Meinung übereinstimmen, aber als Mahner, als Denker hat(te) er seine Berechtigung.

Nachtrag (16.08.06): In Kriegsgefangenschaft hat er gegenüber den Amerikanern seine SS-Mitgliedschaft zugegeben. Wer wollte, konnte das sogar in der Wehrmachtsauskunftstelle nachrecherchieren.

Die rollende Leichtigkeit des Seins

Ja, der Rollkoffer, das ist schon ein Stück hinterhältiges Gepäck. Solange man ihn rollen kann, ist alles in Ordnung. Dann kann auch das dünnste Ärmchen den halben Inhalt des Kleiderschranks problemlos bewegen. Spätestens an der nächsten Treppe oder an der Zugtür ist es vorbei mit der rollenden Leichtigkeit. Dann schlägt die Masse mit aller Wucht zu. Dann zieht und zerrt das kleine Ärmchen am Griff des klobigen, viel zu großen und viel zu schweren Gepäckstücks.

Die Gänge im Zug sind gerade so breit, dass ein Trolley durchkommt. Wehe, im Gang steht schon was anderes. Vielleicht ein anderer Rollkoffer, der ja im Gang stehen muss, weil man ihn weder auf die Gepäckablage gewuchtet bekommt und meist noch nicht mal (ganz) zwischen die Sitze passt. Und Trolleybesitzern durch den Zug zu laufen, wird dann schnell zur Geduldsprobe, denn an jedem Hindernis muss er vom Träger mühsam vorbeimanövriert werden. Und man selbst will einfach nur schnell einen freien Platz finden.

Ich hab übrigens auch gar kein schlechtes Gewissen, wenn sich ein kleines, dürres Weibchen mit ihrem Rollkoffer an der Zugtür mit den hohen Stufen abmüht und ich nicht helfend eingreife. Jeder sollte nur soviel mitnehmen, wie er tragen kann. Kann man nicht viel tragen, kann man sich auch nicht dreimal am Tag umziehen. Und wenn man nicht den halben Kleiderschrank einpackt, hat man auch keinen tonnenschweren Trolley zu wuchten.

Fotos, selbst gezeichnet

Fotos kann man nicht nur (digital oder analog) knipsen, sondern auch am Computer zeichnen. Das Ergebnis ist von echten Fotos hinterher kaum zu unterscheiden. Sie sehen zwar allesamt wie nachbearbeitete Fotos aus, die Oberflächen sind einfach zu glatt. Aber trotzdem erstaunlich, wie realistisch man mit Grafikprogrammen zeichnen kann.

Dann braucht man bald keine Cover-Models nachbearbeiten, sondern kann sich das Wunschmodel dann am Computer zurechbasteln.

[via: Computerbase]

Einflüsterer der Mediengesellschaft

Vieles im Journalismus ist Recycling, sagt Kommunikationswissenschaftler Siegfried Weischenberg. Der hat eine Studie durchgeführt und die als Buch veröffentlicht: Die Souffleure der Mediengesellschaft. Report über die Journalisten in Deutschland

Plazeboalarm zum gleichen Thema: Wenn der Schwanz mit dem Hund

Und auch der Werbeblogger zum Thema „Mehr PR“ (Weischenberg ist allerdings hier nicht das Thema, sondern die Ergänzung von Werbung durch PR. Das macht es nicht besser.)

Wir dürfen uns also in Zukunft auf (noch) mehr PR bzw. versteckter Werbung einstellen. Und das wohl auch in Blogs. Also wachsam sein. Denn: „Alles, was wir über die Welt erfahren“, so der Soziologe Niklas Luhmann, „wissen wir aus den Massenmedien!“

Erinnerungen an den RIAS

Bin neulich beim Spreeblick über den Link zu einem RIAS-Archiv gestolpert. RIAS – oder besser: RIAS 2 – war der Sender, den meine Schwester früher gehört hat. Ist also Teil meiner Kindheitserinnerungen. In berlinnahen Gebieten in Brandenburg konnte man Westsender ohne Probleme hören und die meisten haben das wohl auch gemacht. Da lief einfach die bessere Musik als im DDR-Radio. Manche mögen vielleicht sagen, RIAS 2 war der erste Dudelfunk in Berlin.

Aber egal. Ich hab jedenfalls RIAS 2 mitgehört damals als Kind. Ich erinnere mich besonders an den „alten Ami“ Rick de Leisle und an die Freiheitsglocke inklusive Freiheitsschwur. Besonders sogar an den Freiheitsschwur. Hab ich damals als Kind (als der RIAS 1992 aufhörte zu existieren und in R.S.2 unteraufging, war ich 12 Jahre alt) kaum verstanden, was er bedeutete:

Ich glaube an die Unantastbarkeit und an die Würde jedes einzelnen Menschen. Ich glaube, dass allen Menschen von Gott das gleiche Recht auf Freiheit gegeben wurde. Ich verspreche, jedem Angriff auf die Freiheit und der Tyrannei Widerstand zu leisten, wo auch immer sie auftreten mögen.

Ich erinnere mich daran, dass es furchtbar ernst, von einem Mann mit tiefer Stimme vorgetragen wurde. Mit dem Text konnte ich wenig anfangen, den tieferen Sinn hab ich damals wohl nicht kapiert. Schon gar nicht, dass die DDR, in der ich lebte, ja nach dieser Definition in die Kategorie Tyrannei fiel. Aber dass man irgendwie gegen „das Böse“ kämpfen sollte, ist schon hängengeblieben.
In der Art, wie das vorgetragen wurde, wurde aber schon klar, dass es eher ein verbaler Kampf sein kann. Nicht so ein Kampf Gut gegen Böse wie er bespielsweise jetzt von George W. Bush ausgerufen wurde. Sondern eher im Sinne des Art. 20 des Grundgesetzes.

Wie auch immer, Freiheit und Würde des Menschen und dass das wichtige Dinge sind, die es zu verteidigen gilt, hab ich wohl damals schon verstanden. Vielleicht habe ich das sogar tiefer verinnerlicht, als mir bewusst ist.

Wer die Glocke und den Schwur hören will, kann entweder sonntags um ganz kurz vor 12 Uhr Deutschlandradio Kultur einschalten oder eine historische Aufzeichnung im Radiomusuem finden.

(Falsche) Zahlen und Fakten zu Kana

Am vergangenen Sonntag, 30. Juli, ist im libanesischen Kana ein ziviles Wohnhaus von der israelisches Armee getroffen und damit in Schutt und Asche gelegt worden.

Die Anzahl der Toten: glaubt man den Presseagenturen oder seriösen Blättern, dann sind zwischen 50 und 60 Menschen umgekommen. Die Zahl wurde wohl von libanesischer Seite kolportiert. Warum man allerdings nicht auf die Zahlen des Internationalen Roten Kreuzes (IKRK) zurückgreift, das von 28 geborgenen Leichen, u.a. 19 toten Kindern, spricht, ist mir ein Rätsel. Zumal die Pressemitteilung des IKRK vom 30. Juli stammt, also frisch genug für eine Weiterverbreitung in der Presse.

Von der israelischen Armee hatte es nach dem Angriff geheißen, man habe auf das Haus in Kana gefeuert, weil Hizbollah von dort aus bzw. aus dem Dorf Kana Raketen gen Israel flogen. Jetzt, nach ersten Untersuchungen der Armee stellt sich das anders dar:

It now appears that the military had no information on rockets launched from the site of the building, or the presence of Hezbollah men at the time.

The Israel Defense Forces had said after the deadly air-strike that many rockets had been launched from Qana. However, it changed its version on Monday.

The site was included in an IAF plan to strike at several buildings in proximity to a previous launching site. Similar strikes were carried out in the past. However, there were no rocket launches from Qana on the day of the strike.
(Haaretz, 01.08.06)

Wie wäre es mal mit ein bisschen mehr Recherche und Quellencheck, liebe deutsche Journalisten? Gerade im Krieg ist jede Nachricht von Seiten der Kriegsparteien potentielle Propaganda.

Die FAZ versucht sich heute an ein wenig Rückschau, unterschlägt aber komplett die Tatsache, dass es keine Raketen aus Kana gab. Stattdessen ein paar unbewiesene Behauptungen, dass Hisbollah das Haus selbst gesprengt hätte oder Raketen dort gelagert hätte. Dass Häuser auch später einstürzen können, weiß man von Erd- bzw. späteren Nachbeben.

[via: Rebellmarkt]

Nachtrag (3. August): Heute berichtet die deutsche Presse über den Militärbericht. Von Raketen aus Kana ist keine Rede, stattdessen habe man das Haus zerstört, weil man dort Waffen bzw. einen Hisbollah-Unterschlupf vermutet hat.