Archiv für den Monat: September 2010

Erschütterungen der Macht bei Wikileaks

Wikileaks scheint offenbar in unruhiges Fahrwasser geraten zu sein. Der deutsche Sprecher hat hingeworfen und irgendwie wurde er auch schon vor einem Monat vom Wikileaks-Chefsprecher Julian Assange suspendiert. Und offenbar gibt es Unmut innerhalb von Wikileaks über den Stil von Assange, der als selbstgefälliger Autokrat hingestellt wird.

Damit dürfte wohl eins erreicht sein: der Glaube an die Verlässlichkeit von Wikileaks schwindet. Nicht mal so sehr aus Sicht der Nutzer, sondern vielmehr aus der Sicht der potentiellen Whistleblower. Kein Informant wird sich mit Informationen, die ihm selbst den Job und noch viel mehr kosten können, an eine Plattform wenden, die einen unzuverlässigen Eindruck macht, die von einem Spinner kontrolliert wird.

Zwei Dinge sollte man im Hinterkopf behalten: Wikileaks tritt vielen Mächtigen auf die Füße und somit sollte man Informationen über Wikileaks oder Assange immer mit einer gewissen Vorsicht genießen. Es könnte auch durchaus sein, dass gezielt Unruhe in Wikileaks-Truppe hineingetragen, gezielt vorhandene Konflikte geschürt werden sollen, um Wikileaks zu schwächen oder gar zu zerstören. Daraus will ich keine Verschwörungstheorie basteln, nur sollte man eben im Hinterkopf behalten, dass Wikileaks „Feinde“ hat.
Zum anderen kann eine Plattform für Whistleblower nicht der uneingeschränkten Transparenz frönen. Dadurch bleibt vieles im Ungefähren, vieles bleibt geheimnisvoll sumpfig. Oft nicht viel anders als das, was man an die Öffentlichkeit bringt.

Bleibt zu hoffen, dass sich Wikileaks wieder fängt oder dass sich andere Whistlerblowerplattformen etablieren, vielleicht mit besseren, robusteren Strukturen im Innern. Ich halte solche Plattformen für äußerst wichtig in einer Demokratie.

[via: Netzpolitik, ruhig auch die Kommentare dort lesen]

Artikel von tagesschau.de jetzt bei depub.org

Neulich hatte ich ja über das Verschwinden meiner verlinkten tagesschau.de-Seiten gemosert. Jetzt hat sich jemand (wer?) daran gemacht und hat das tagesschau.de-Archiv (von 1999 an), das über BitTorrent im Umlauf war, auf einen Server gepackt. Es ist jetzt unter depub.org/tagesschau erreichbar. Neue Inhalte kommen wohl von nun an automatisch dazu.

Und das scheint erst der Anfang zu sein. Es sollen nach und nach die anderen, ebenfalls aus dem Netz genommenen Inhalte der anderen öffentlichen-rechtlichen Sender folgen.

Die Idee hinter depub.org ist super. Öffentlich finanzierte Inhalte sollten öffentlich zugänglich sein und dann auch bleiben. Besser wäre es aber imho, wenn es dort passieren würde, wo die Inhalte entstehen – bei den Sendern selbst. Dort kann es redaktionell nachbearbeitet werden, dort kann es jeder leicht finden und dort ist auch Geld für das Hosting vorhanden.

[via: Netzpolitik.org]

Nachtrag I (15.09.10): In meinem letzten Absatz fehlte noch ein Punkt: weil dort auch die Urheberrechte liegen. Und deshalb hat Carta heute beim NDR nachgefragt und dort ist man nicht erfreut über depub.org. Man wolle „mit allen juristischen Mitteln […] vorgehen, soweit dies möglich ist“. Naja, wild entschlossen klingt es nun nicht, vielleicht will man auch vorerst mal nicht verbal auf die Pauke hauen. Mal schauen was draus wird.

Nachtrag II (17.09.10): Zeit online hat ein Interview mit den Machern von depub.org. Und die Pressemitteilung des NDR klingt eher wie ein „Wir finden die Aktion gut, aber dürfen das nicht so offen sagen“-Statement. [via: KoopTech]

Nachtrag III (07.05.12): Links rausgenommen, weil sie nur noch auf eine Domainparking-Seite führen.

Sarrazin und seine Angst vor Veränderungen

Auweia, die Sarrazin-Debatte wird ja immer wilder. Jetzt kommt auch noch das „Argument“ namens „Man wird ja wohl noch sagen dürfen, dass …“ Lieber Himmel, Herr Sarrazin darf es doch sagen. Er tut es sogar sehr öffentlich, in Pressekonferenzen, in Interviews, in Talkshows und bald auf einer Lesereise. Keiner verbietet ihm das Wort, sein Buch wird nicht zensiert, er wird nicht angeklagt o.ä. – kurz: er darf seinem Recht auf Meinungsfreiheit nachkommen. Davon macht er ja nun regen Gebrauch.
Aber zur Meinungsfreiheit gehört auch, dass andere auf das Gesagte reagieren und dass sie das Gesagte vielleicht sogar für hochgradigen Schwachsinn halten. Und in manchen Fällen gehört es auch dazu, dass man sich um Kopf und Kragen redet, Parteimitgliedschaft und den Posten im Vorstand der die Bundesrepublik repräsentierenden Bundesbank riskiert (womit man ihn finanziell auch nicht ruinieren dürfte).

Biologische Begründung ist schwachsinnig, aber soziologische Erklärung wird ignoriert

Sarrazins Kernthese ist ja: Deutschland wird ärmer und dümmer, weil die jetzt Dümmeren und Faulen mehr Kinder kriegen als die Klügeren und Fleißigeren. Weil sich außerdem Intelligenz vererbt, wird über kurz oder lang die „qualitative“ Zusammensetzung unserer Gesellschaft verkommt. Und weil die meisten Dummen und Faulen unter den Migranten zu finden sind, sind diese also unser Untergang. Kurzum: es bekommen die falschen Leute Kinder. Diese These ist nicht neu und hat schon früher zu einer gewissen Aufregung geführt.
Akademikerfrauen bekommen im Durchschnitt weniger Kinder als weniger gebildete Frauen. Das ist ein Fakt und lässt sich statistisch belegen. Gut, man könnte natürlich auch argumentieren (oder sich alternativ im eigenen Bekannten-/Familienkreis umhören, wenn man nicht die Bodenhaftung verloren hat), dass es für viele dieser fleißigen und klugen Menschen einfach unheimlich schwer ist, Kinderkriegen und Beruf unter einen Hut zu kriegen ist, wenn die Anforderungen nach Aus- und Weiterbildung im Job ständig steigen, Aufopferung und stetige Erreichbarkeit vorrausgesetzt werden.

Oder man könnte andere Erklärungsmuster zu Rate ziehen, die den oben beschrieben Bildungs-Geburtenratezusammenhang erhellen. Z.B. eher sozialwissenschaftliche Erklärungsmuster. Dass Bildungsunterschiede sehr häufig soziale Gründe haben, Migranten häufig aus eben jenen sozial schwächeren Schichten kommen und die Geburtenrate auch bei Migranten mit dem Ansteigen des Bildungsniveaus abnehmen. Könnte man.
Man kann aber auch sein Unwissen in Sachen Genetik und Biologie* zur Schau stellen und sich dann daraus eine Theorie zur Erblichkeit von Intelligenz/Fleiß/Interesse basteln: weil die Migraten ein bisschen doof sind, sie mehr Kinder produzieren und sich diese Doofheit vererbt, darum wird Deutschland bald auch doof sein. Damit verwechselt Sarrazin mal wieder Korrelation mit Kausalität: der Migrantenstatus korreliert im Durchschnitt mit dem schlechteren Bildungsniveau. Der Grund, die Kausalität, dafür ist bei Sarrazin die Herkunft, die Nationalität, ja vielleicht sogar die Religion (überhaupt reiht sich für mich die Debatte zu sehr ins gerade populäre Islambashing ein). Soziologische Erklärungsmuster lehnt er ab.
Ein weiteres Problem an Sarrazins Thesen ist ihre „gefühlte Richtigkeit“, die sich nicht eben mal so schnell widerlegen lassen. Wenn er Statistiken falsch interpretiert oder schlicht falsch wiedergibt, oder aber wenn er sich selbst welche ausdenkt.

Die Theorie, dass bestimmte Bevölkerungsgruppe bestimmte Eigenschaften haben und diese dann weitergeben, scheint zumindest unter alten Männern der SPD (hier: Klaus von Dohnanyi) weiter verbreitet zu sein, als ich dachte:

Sarrazins Behauptung, dass es besondere, kulturelle Eigenschaften von Volksgruppen gibt, kann heute niemand mehr mit Sachkenntnis bestreiten. Die amerikanische Enzyklopädie der Sozialwissenschaften nennt das social race: „soziale Rasse“. Sarrazin sieht nun bei Teilen islamischer Gruppen eine Ablehnung der Integration und darin Gefahren für unsere Bildungs- und Leistungsgesellschaft.

Was soll denn das heißen? Der Türke (der Muslim?) ist halt so, der ist nun mal ein bisschen faul, der kann nicht anders?! Ich gehe ja durchaus d’accord, dass es in anderen Länder andere Ansichten zu z.B. Pünktlichkeit, Arbeitseifer, Freundlichkeit etc. (um das Wort „Tugenden“ nicht zu verwenden) gibt. Aber ich würde das nicht auf „Volksgruppen“ als solche anwenden. Warum sollten Migranten nicht in einem anderen gesellschaften Umfeld diese veränderten Gepflogenheiten annehmen?

Angst vor Veränderungen

Ich finde ohnehin – und das spricht ja dafür, dass es besonders bei alten Leuten ein beliebtes Thema zu sein scheint -, dass hier die Themenbereiche Bevölkerung, Intelligenz und Tugenden allzu statisch gesehen werden. Wer hätte denn vor 200 Jahren, als in Europa noch überwiegend Analphabeten lebten, gedacht, dass wir mit den Nachfahren dieser Menschen heute am Beginn einer Wissensgesellschaft stehen. Für eine Evolution der Intelligenz ist dieser Zeitraum zu kurz. Oder anders gesagt: mit dem Bildungswesen von heute wären aus den damaligen vermeintlich dummen, aber eben nur ungebildeten Menschen auch schon die gleichen intelligenten Menschen wie heute hervorgegangen. Es hängt eben viel stärker von äußeren Einflüssen ab als von der genetischen Ausstattung. Oder besser: erst mit den richtigen äußeren Einflüssen kann das Potential der genetischen Ausstattung abgerufen werden. Dann die Sache mit den Tugenden, die ja auch bei Sarrazin explizit genannt werden oder zwischen den Zeilen durchschimmern: auch da ist nichts statisch. Oskar Lafontaine meinte ja mal, mit bestimmten in Deutschland beliebten Sekundärtugenden ließe sich eben prima ein KZ betreiben. Dahinter steckt ja nichts anderes, als dass sich Tugenden und gesellschaftliche Werte verändern, einige gewinnen, andere verlieren an Bedeutung. Rückblickend betrachtet ist das nicht mal so schlecht.
Und so würde ich Sarrazins Buch auch ein gutes Stück weit als Ausdruck einer großen Angst vor Veränderungen ansehen.

Und ja, zum Abschluss: wir können und müssen über Integration reden. Und wir tun das nun auch laufend. Kein Jahr vergeht ohne neue Integrationsdebatte. Das ist doch nun wirklich kein Tabu mehr. Aber die, die am meisten von mangelnden Integrationswillen der Migranten reden, die aus der schwarzen Ecke und alte SPDler, haben bis in die 90er Jahre von Gastarbeitern gesprochen und jegliche Debatte über Deutschland als Einwanderungsland verweigert. Und vielleicht steht es ja um die Integration sogar besser, als es uns die aktuelle Sarrazin-Debatte weißmachen will.

* Sarrazin hat diese Unwissenheit in Sachen Genetik/Molekularbiologie keineswegs exklusiv. Bei Berichten oder Diskussionen über z.B. Gentechnik tun sich ja regelmäßig Abgründe in der deutsche Presse, aber auch in Blogs auf.