Diskussion: Aber bitte mit Fakten

Kürzlich schrieb ich darüber, dass Natur- und Geisteswissenschaftler unterschiedliche Vorstellungen von „unverhandelbar“ haben. Meine These war, dass ein guter Teil der Missverständnisse innerhalb von Diskussionen darauf beruhen, wie eben aktuell zur Corona-Situation. Zu besichtigen ist das derzeit in der missglückten Aktion #allesdichtmachen, die die Maßnahmen zur Pandemieeindämmung grundsätzlich und eher pauschal kritisiert. Pauschal im Sinne von: wir stellen nicht einzelne Maßnahmen in Frage sondern stellen die Regeln einmal grundsätzlich in Frage. Um dann hinterher zu sagen, dass es schön ist, dass überhaupt wieder mehr diskutiert wird. Als wäre Diskussion per se ein Gewinn.
In eine ähnliche Richtung, wenn auch deutlich moderater im Ton, geht das Manifest „Für die offene Gesellschaft“. Auch hier wird verlangt, wir müssen wieder mehr diskutieren. Können wir gern, bei naturwissenschaftlichen Themen – und das ist eine Pandemie dem Grunde nach nun mal – auf der Basis von naturwissenschaftlichen Fakten. Ich kann mir auf dem Papier auch ein Wunschhaus zeichnen, wenn der Statiker aber sagt, das geht nicht, dann hilft auch alles diskutieren nicht. Bezeichnenderweise ist unter den Verfasser*innen des Manifests nur ein (früherer) Naturwissenschaftler vertreten.

Ja, ich finde auch die Erregung, das Hyperventilieren nicht nur in der Corona-Diskussion unerträglich. Dass es nur darum zu gehen scheint, laut zu sein, zu diffamieren, jemanden in eine Ecke zu stellen, statt sich inhaltlich mit dem Gesagten/Geschriebenen auseinanderzusetzen. Verwünschungen und (Mord-)Drohungen gehen gar nicht und das sollte demokratischer Konsens sein.

Aber warum schreibe ich das alles? Weil Mitverfasserin Ulrike Guérot dem Deutschlandfunk ein Interview (MP3) gegeben hat, im dem sie u.a. die Aktion #allesdichtmachen … nunja … eher verteidigt. Das an sich ist – siehe oben – völlig okay. Nicht okay ist allerdings ihre Argumentation.

Zunächst geht es darum, dass Frau Guérot eine „homogenisierte Medienlandschaft“ (Minute 5:51) beobachtet. Darüber wundert sie sich:

[…] Dann müssten wir uns fragen, warum ist diesmal die zementierte Meinung so stark. Das ist ja ungewöhnlich. Wir haben ja in allen Situationen der Bundesrepublik, ganz egal ob NATO-Doppelvertrag oder Ostverhandlungen. Wir hatten doch nie geschlossene Meinungsdecken von 70, 80%. Das ist doch eher unüblich. Und wenn das unüblich ist für eine Demokratie, dann ist doch die Frage, warum ist diese geschlossene Meinungsdecke bei Corona so hoch. Und wenn sie so hoch ist, ist die Frage, ist das vernünftig, dass sie so hoch ist oder ist sie panik-, angst- und hysteriegetrieben, wofür es ja Argumente gibt. […]

DLF-Interview, ab 7:00

Panik, Angst, Hysterie – ja, das muss der Grund sein. Einsicht auf der Grundlage von Fakten? Nein, das kann nicht sein. 2 + 3 = 5, darüber wird es sogar eine fast 100%ige Zustimmung geben. NATO-Doppelbeschluss und Ostverhandlungen waren originär politische Themen, da gab es kein faktenbasiertes Richtig oder Falsch. Je nach Sichtweise war der Russe böse oder die Amis nicht besser. Je nach Sichtweise war Abschreckung das richtige Mittel oder Abrüstung. Ansichtssache. Was mich wieder zur These zurückbringt, dass zwischen politik- und faktenbasierten Diskussionen nicht unterschieden wird.

Machen wir weiter im Interview.

Das Präventions-Paradox

[…] Vor einem Jahr, die Bilder aus Bergamo, die man übrigens auch mal dekonstruieren müsste. Wir sind ja über ein Jahr nach den Bildern aus Bergamo immer noch bei den Bildern aus Bergamo. Wobei sich nach einem Jahr hier in Deutschland keine Bilder aus Bergamo ergeben haben. Also das ist ja auch Teil des Problems. […]

DLF-Interview, ab ungefähr 9:35

Bergamo. Die Chiffre für Leichenberge zu Beginn der Corona-Pandemie in Italien. Der erste deutliche Fingerzeit, dass das, was da kommt, mehr als eine Grippe-Welle ist. Damals, im Februar 2020. Bevor es einen Lockdown und alle anderen Maßnahmen (Abstand, Maske, Kontaktbeschränkungen) gab. Gerade wegen dieser Maßnahmen gab es keine Bilder wie in Bergamo. Der Begriff des Präventions-Paradoxons sollte denjenigen, die sich öffentlich zu Corona äußern inzwischen geläufig sein. Eigentlich und präziser: die selbstzerstörende Prophezeiung. Es wird eine (wissenschaftliche) Prognose erstellt, die lautet: unter Bedingung A tritt als Folge B ein. Beispiel: wenn wir weiter Schwefeldioxid in die Luft pusten, stirbt der Wald. Wenn wir weiter FCKW in die Atmosphäre entlassen, löst sich die Ozonschicht auf. Wenn so weiter machen wie bisher, hat das Virus freie Bahn und die Leichensäcke liegen bald vor den Kliniken auf der Straße.

Jetzt begannen die Maßnahmen: Rauchgasentschwefelungsanlagen wurden eingebaut, FCKW in Kühlschränken wurde verboten und, ja, die AHA-Regeln und der Lockdown kamen. Der Wald starb nun doch nicht, die Ozonschicht ist immer noch da und die Intensivstationen waren nicht überfüllt. War alles nur Panikmache? Natürlich nicht. Die Bedingung A hat sich geändert. Und Prognosen sind nur unter Bedingungen aussagekräftig. Wenn sich die Bedingungen ändern, ändern sich auch die Folgen und es sieht hinterher so aus, als sei die Vorhersage apokalyptisch aufgebauscht worden.

Corona-Maßnahmen sind in erster Linie kein Selbstschutz

[…] nicht, wenn diese Lösungen [gemeint sind die Corona-Maßnahmen inkl. Impfungen] sozusagen der Zwang zum Selbstschutz sind. […] Der Bürger muss auch eine selbstverantwortliche, auch würdevolle Entscheidung der Lebensführung haben.

DLF-Interview, ab ungefähr 12:30

Das ist falsch. Die „Maßnahmen“ dienen gerade nicht dem Selbstschutz. Pandemiebekämpfungsmaßnahmen haben das Ziel, die Übertragung des Krankheitserregers zu verhindern. Das Individuum handelt im Sinne des Infektionsschutzes zum Wohle der Anderen. Die Maske verhindert nicht meine Infektion, sondern die Infektion meines Gegenübers. Das Infektionsschutzgesetz war im Übrigen schon immer sehr rigoros was die Einschränkung von Grundrechten angeht. Bei entsprechender Ansteckungsgefahr ist eine Quarantäne möglich und die kann auch im Krankenhaus oder sonstwo erfolgen, wenn man nicht willens ist, sich zu Hause zu isolieren. Mit anderen Worten: man wird dann weggesperrt bis die Ansteckungsgefahr vorüber ist.
Impfungen dienen nicht in erster Linie der individuellen Prävention, sondern sollen eine Herdenimmunität der Gesellschaft herstellen, um diejenigen zu schützen, die aus verschiedenen Gründen nicht geimpft werden oder keinen Immunschutz aufbauen können (u.a. Schwerkranke, Schwangere, Säuglinge).

Eindämmungsmaßnahmen wirken

[…] Ist dann auch mal gut? Also die Annahme von „Zero Covid“, dass irgendwann mal gut ist, ist ja allein deswegen problematisch, weil wir seit Jahren, Jahrzehnten Viren wie Polio haben – damit kommen wir auch nicht klar. […]

DLF-Interview, ab ungefähr 13:40

„Zero Covid“ oder auch „No Covid“ halte auch ich für in Deutschland nicht realisitisch umsetzbar. Funktioniert in Gegenden mit Insellage wie Australien und Neuseeland oder man überzieht das Land mit Eindämmungsmaßnahmen á la China. Dass wir aber Viren wie Polio nicht auf Null bringen konnten, ist eine steile These. Und eine falsche dazu. Poliomyelitis (Kinderlähmung) ist nahezu ausgerottet. Bis auf Afrika gilt die Welt als Polio-frei. Anderes Beispiel: Pocken. Zugegeben: das sind leider die zwei einzigen Beispiele der vollständigen Ausrottung.
Dann gucke ich mir aber den Impfausweis meiner Kinder an. Alternativ und besser verlinkbar: den Impfkalender der Ständigen Impfkommission des Robert-Koch-Institutes. Jede Menge Infektionskrankheiten, die in Deutschland und in Europa praktisch keine Rolle mehr spielen: Röteln, Masern, Mumps, Tetanus, Diphterie, Keuchhusten.
Andere Beispiele, bei denen Präventionsmaßnahmen gut wirken: HIV und Grippe. Die Neuinfektionen mit HIV gehen seit 15 Jahren zurück. Das liegt auch an Präventionsmaßnahmen wie der Benutzung von Kondomen. Im Winter 2020/21 ist die Grippewelle fast vollständig ausgeblieben. Es liegt nahe, die Präventionsmaßnahmen gegen Corona dahinter zu vermuten.

Dieser Quatsch mit der Nicht-Ausrottung ist übrigens kein Ausrutscher von Guérot. Bereits im Januar sagte sie einem Streitgespräch mit dem Schriftsteller Raul Zelik (MP3) folgendes:

Die Covid19-Strategie [gemeint ist die No-Covid bzw. Zero-Covid-Strategie] beruht auf der abenteuerlichen Annahme, man könnte ein Virus bis aufs Letzte eradizieren. Wir wissen aber, dass wir das nicht können. Weder Ebola, noch AIDS, noch irgendein anderes Virus, mit dem wir lange umgehen, ist irgendwie eradiziert worden. Sogar bei Polio kämpfen wir noch. Das heißt: die Frage ist doch, ist eine Covid-19-Strategie in ihrer gesamten Grundannahme, dass wenn wir jetzt Zero-Lockdown machen, drei Wochen und dann sind wir durch. Also die Annahme, dass wir mit irgendwas irgendwann mal durch sein könnten, die stelle ich massiv in Frage. Zumindest spricht die gesamte Wissenschaftsgeschichte dafür, dass wir nie ein Virus ausgerottet haben. Wenn das die Annahme ist, dann müssen wir doch lernen, mit dem Virus zu leben.

DLF-Gespräch, ab ungefähr 10:30

Das ist einfach falsch. Und das ärgert mich. Wir können über alles diskutieren. Aber wenn die faktische Basis schon nicht stimmt, wie wollen wir dann diskutieren? Eine Diskussion setzt doch einen gewissen Konsens der faktischen Welt voraus.
Mich ärgert auch, dass Frau Guérot im gleichen Radiosender den gleichen Quatsch unwidersprochen wiederholen darf.

Mühsame Diskussionen drohen

Warum ist mir die Unterscheidung so wichtig? Politik ist das Aushandelns eines Wegs zum Ziel. Für mich gibt es ebenfalls unterschiedliche Arten von Zielen: das kann ein politisches sein (z.B. Gleichstellung der Geschlechter, Schuldenbremse, gemeinsame Währung in Europa) oder ein quasi von der Natur erzwungenes (z.B. Erderwärmung auf 1,5 Grad begrenzen, Bienensterben verhindern, Grundwasserschutz, Menschenleben in einer Pandemie eines neuartigen Virus schützen). Das muss sich dann in der Art der Diskussion auch widerspiegeln. Im ersten Fall sind Ziel und Weg frei diskutierbar, im zweiten Fall beschränkt das festgelegte Ziel und die natürlichen oder technischen Rahmenbedingungen die Freiheitsgrade in der Wahl des Weges.

Ich bin vor allem deshalb vom Diskussionsniveau bei Corona so enttäuscht, weil eine ungleich größere Aufgabe politisch bewältigt werden muss: die Abmilderung bzw. besser noch die Verhinderung der Klimakatastrophe und der Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft auf Nachhaltigkeit. Auch das ist ein von der Natur erzwungener Prozess mit entsprechend verringerten Freiheitsgraden im politischen Handeln. (Hinweis: An eine „Alternativlosigkeit“ von Maßnahmen glaube ich allerdings – bis auf wenige Ausnahmen – auch nicht. Es gibt fast immer Alternativen, zwischen denen man abwägen kann und muss. Das ist Aufgabe von Politik.)

Es geht auch anders

Wer übrigens mal hören oder lesen möchte, wie sachliche Kritik aussehen kann, findet im Interview des Deutschlandfunks mit dem Medizin-Journalisten Christoph Specht (MP3) ein schönes Beispiel. Er kritisiert die Verwendung der Corona-Inzidenz (weil zu zufällig), die Ausgangssperren (weil deren Wirkung für Deutschland eher fragwürdig ist), die FFP2-Masken-Pflicht (weil häufig zu schlecht getragen und damit unwirksamer als Alltagsmasken) und dass es eigentlich ein Unding ist, dass wir nach über einem Jahr immer noch keine saubere Virus-Surveillance haben. Nach solch differenzierter und fakten- und kenntnisreicher Kritik käme niemand auf die Idee, Specht wahlweise in die Querdenker- noch in die alle-Medien-sind-gleichgeschaltet-Ecke zu stellen.

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