Archiv für den Monat: September 2011

Wir brauchen eine andere parlamentarische Diskussionskultur

Heute ging es im Bundestag um die Abstimmung über den „Eurorettungsschirm“ und die Aufstockung der Bürgschaften darin. Nicht alle der Regierungskoalition waren damit einverstanden. Das ist ja erstmal nicht weiter schlimm.

Der Hammer ist aber: CDU/CSU und FDP wollten diese „Abweichler“ vor dem Bundestag nicht sprechen lassen, die wollten keine echte Debatte zulassen, die wollten nur Pro-Gesetzes-Entwurfs-Redner haben. Erst der Bundestagspräsident hat zwei Abgeordneten (je 1x CDU u. 1x FDP) das Recht eingeräumt, direkt in der Debatte sprechen zu dürfen. Das gab dann auch gleich mächtig Knatsch:

„Diese Entscheidung halte ich für falsch“, ärgerte sich nach der Abstimmung Unions-Fraktionschef Volker Kauder. „Wenn alle reden, die eine von der Fraktion abweichende Meinung haben, dann bricht das System zusammen“, befürchtet der Christdemokrat.

Mit „System“ ist der Fraktionszwang gemeint, das System, das alle schön in Reih und Glied stehen und ja keine Diskussion aufkommt lässt. Dass der Bundestagspräsident überhaupt eingreifen muss, ist allein schon ein Armutszeugnis, dass es hinterher auch noch Gemoser gibt, macht es noch schlimmer. Dabei heißt es in Art. 38 GG, dass Abgeordnete „nur ihrem Gewissen“ verpflichtet sind. Aber wehe es wagt einer mal, das ernst zu nehmen.

Andererseits: wenn im Parlament keine Diskussion mehr stattfindet, können wir uns die ganze Veranstaltung auch ersparen, dann ist es eine sinnlose Sache.

Man gucke sich auch mal die Reden von Klaus-Peter Willisch von der CDU und Frank Schäffler von der FDP an. Das ist kein Scheiß, den die da erzählen, das ist sind ernsthafte Bedenken, die nicht an den Haaren herbeigezogen werden. Man muss dem inhaltlich nicht zustimmen, aber totschweigen sollte man es erst recht nicht.
Und dann bekommen die beiden nicht mal Anstandapplaus, das Plenum bleibt totenstill. Was für eine Schande – für die Ja-Sager! Von solchen Leuten werden wir regiert, von solchen Diskussionsverweigerern, solchen geringster-Widerstand-Gehern. Ich hatte das letztens mal im Zusammenhang mit der Piratenpartei erwähnt: wir brauchen eine andere Diskussionskultur innerhalb der Parteien und in den Parlamenten, die Menschen wollen eine andere Diskussionkultur. Solche Abstimmungsinszenierungen sind wunderbar geeignet, um die Politikerverdrossenheit noch ein bisschen höher zu treiben.

P.S.: Die Opposition von SPD und Grüne ist in diesem Fall ein Totalausfall: die haben mit der Regierungskoalition gestimmt (von je einem Abgeordneten aus SPD [Wolfgang Gunkel] und Grüne [H.-Chr. Ströbele] abgesehen). Die LINKE hat geschlossen dagegen gestimmt.

Und auch noch Kritik an den Medien: mit ihrem Aufbauschen der Tatsache, dass die Regierung Merkel einpacken kann, am Ende ist, wenn sie keine eigene Mehrheit zustande bringt, führt zu solchen Auswüchsen. Einerseits wird der Eindruck erweckt, als müsse es immer Einstimmigkeit bei Parlamentsbeschlüssen geben (dann brauchten wir aber kein Parlament mehr) und andererseits wird viel Druck auf die Abgeordneten selbst erzeugt, die im Zweifel lieber mit der Fraktion stimmen, statt so, wie sie es für richtig halten.

EU-Parlament verschärft Stabilitätspakt

Um die Euro-Staaten zur Einhaltung bestimmter Verschuldungskriterien zu animieren, gab es bisher auch schon den Stabilitätspakt. Da gab es auch schon Sanktionsmaßnahmen, wenn bestimmte Verschuldungshöchstgrenzen überschritten wurden. Weil das aber bisher keinen gekratzt hat (bisher wurden auch noch keine entsprechenden Sanktionen verhängt), hat das EU-Parlament heute eine Verschärfung beschlossen. Das war eine ganze Weile in der Diskussion und ich hatte mich bisher gefragt, worin diese Sanktionen denn bestehen sollten. Die werden doch nicht – so dachte ich – Geldstrafen verhängen?! Das wäre ja ein bisschen schwachsinnig, einem Staat, der zu wenig Geld hat, auch noch Geld abzunehmen. Das wäre ja so, als würde man einem Hungernden mit Nahrungsentzug drohen. Aber genau das machen die:

Wer die Regeln bricht, muss zum Auftakt eines Verfahrens ein Pfand von 0,2 Prozent der Wirtschaftsleistung hinterlegen. Das wären für Deutschland rund fünf Milliarden Euro. Das Pfand wird in eine Geldbuße umgewandelt, wenn die betroffene Regierung nicht entschieden genug spart. Für chronische Defizitsünder wird es noch teurer. Dann werden Bußen von bis zu 0,5 Prozent der Wirtschaftsleistung fällig.

Und überhaupt, wie sollen Geldstrafen etwas bewirken? Das bringt ja nur etwas, wenn man dann weniger Geld zur Verfügung hat, wenn also ein realer Verlust droht. So wie bei Privatpersonen oder Unternehmen. Bei Staaten allerdings ist das ja nicht so, dann werden halt noch ein paar Kredite mehr aufgenommen. Das ist reiner Aktionismus, reine Symbolpolitik.

Private Daten vs. öffentliche Daten

Spiegel Online versteht das Prinzip Wikileaks nicht:

Julian Assanges Verhältnis zum Dogma der totalen Informationsfreiheit ist augenscheinlich gespalten. Einerseits pflegt der WikiLeaks-Gründer zu betonen, dass die Veröffentlichung geheimgehaltener Dokumente die Welt besser machen könne, spricht gern von einem „Kampf“ den WikiLeaks führe, um „ein neues Verhältnis zwischen den Menschen und ihren Regierungen“ herbeizuführen. Informationsbefreiung ist seine Mission.

Wenn es jedoch um ihn selbst geht, ist sein Bedürfnis nach totaler Informationsfreiheit weniger ausgeprägt – selbst, wenn es um Informationen geht, die er selbst ursprünglich freiwillig zur Verfügung gestellt hat.

Das „Dogma der totalen Informationsfreiheit“ galt schon immer nur für Informationen von Staaten, Regierungen, Behörden und Konzernen. Also solche Informationen, die für die Gesellschaft an sich relevant sind. Das Prinzip ist, dass Institutionen, die das öffentliche Leben bestimmen, keine Geheimnisse vor ihren Bürgern haben sollten. Im Gegensatz dazu muss der Bürger in der Lage sein, seine eigenen privaten Daten zu schützen. Das ist z.B. auch Bestandteil der Hackerethik: „öffentliche Daten nützen, private Daten schützen“. Eigentlich gar nicht so schwer zu begreifen – außer man will es absichtlich falsch verstehen.

Piratenpartei zieht mit 15 Abgeordneten ins Berliner Abgeordnetenhaus ein

Ein bisschen hatte ich die Piraten ja schon abgeschrieben. Nach meinem Empfinden war es in letzter Zeit recht ruhig um sie geworden. Aber nun melden sie sich zurück mit dem furiosen Einzug ins Berliner Abgeordnetenhaus: 8,9% der Stimmen. Da muss der Berliner Landesverband eine Menge richtig gemacht haben.

8,9 Prozent – das sind nicht nur ein paar Nerds oder solche, die einfach mal aus Jux ihr Kreuzchen woanders gemacht haben. Ich sehe da auch keine Protestwähler, jedenfalls nicht von der Sorte, die einen „Denkzettel“ verpassen wollten.
Die vielen vorherigen Nichtwähler deuten eher darauf hin, dass hier Menschen eine echte Wahlalternative gefunden haben, jenseits der etablierten Parteien, dass die Piraten ein Wahlprogramm hatten, mit dem sich einige besser identifizieren konnten als mit den anderen Angeboten. Kurz: das ist kein Zufall.

Was ich gut an den Piraten finde und was, glaube ich, auch andere ganz gut fanden: diese Partei ist ein interessant anderes Projekt. „Interessant anders“ im Sinne von: keine Berufspolitker, kein staatstragendes Getue, keine Endlossätze ohne Aussage, aber dafür basisdemokratisch organisiert und mit einem Anspruch an Transparenz (den es nun gilt, in die Tat umzusetzen). Ganz sympathisch, aber auch ein bisschen fremd, wenn die neuen Landtagsabgeordneten im Pulli da rumsitzen man sich die Pressekonferenz der Berliner Piraten vom Tag nach der Wahl anguckt. Aber sollte das nicht auch so sein, dass da Leute wie du und ich sitzen? Macht das nicht am Ende Demokratie auch aus?

Ob das am Ende reicht, ob das sich so durchzuhalten lässt, wie lange man die Bodenhaftung behalten kann, ob nicht irgendwann Berufspolitiker nötig sein werden – man wird sehen. Zumindest erinnert vieles sehr stark an die Anfangszeit der Grünen, wenn man sich mal Parteitage Delegiertenkonferenzen von denen aus den 80er Jahren anguckt. Deren Entwicklung und die Verankerung grüner Ideen in der Gesellschaft könnten Vorbild sein. Was ja auch gleichzeitig eine (Be-)Drohnung ist: vom Revoluzzertum, vom Anderssein bleibt am Ende nicht viel übrig (auch wenn mir die Grünen immer noch sympathischer sind als CDUSPDFDP).

Ich habe auch wenig Illusionen: das wird noch ordentlich krachen innerhalb der Piraten. Da wird es noch ordentlich Richtungsstreit geben. Und bei diesen transparenten Strukturen wird auch kaum was unter der Decke bleiben. War ja in der Vergangenheit nicht anders. Aber Politik besteht nun mal aus Streit, aus gegensätzlichen Meinungen, aus Diskussion und Debatte. Wäre schön, die Piraten einen anderen Stil in die Politik reinbringen würden: Transparenz, Offenheit, Diskussionsfreude und auch mal zu sagen: „Moment, da hab ich gerade keine Lösung, darüber muss ich erstmal nachdenken.“

Nachtrag (22.09.11): Sascha Lobo schreibt in seiner SpOn-Kolumne einen klugen Kommentar zum Wahlerfolg der Piratenparte.