Vor gut einer Woche hatte ich noch gemutmaßt, dass es bei dem Tanklasterangriff nahe Kunduz in Afghanistan nicht um die Zerstörung der festsitzenden LKW ging, sondern dass es für mich nach gezielter Tötung der Menschen vor Ort aussah.
Seit Samstag herrscht darüber Gewissheit. Im ComISAF-Bericht (Bericht des Oberkommandierenden der ISAF-Truppe McChrystal) steht das so drin und auch in einer Meldung des deutschen Oberst Klein (vom 6. September!) an den damaligen GI Schneiderhan beschreibt er das so:
Am 4. September um 01.51 Uhr entschloss ich mich, zwei am Abend des 3. September entführte Tanklastwagen sowie an den Fahrzeugen befindliche INS (Insurgents, auf Deutsch: Aufständische) durch den Einsatz von Luftstreitkräften zu vernichten.
Möchte man der Leipziger Volkszeitung glauben, dann war der nächtliche Angriff kein spontaner Einfall von Oberst Klein, sondern vielmehr das Ergebnis einer Eskalationsstrategie, zu der eben auch die gezielte Tötung von Taliban gehören sollte. Kanzleramt, Verteidigungsministerium und BND haben diese Strategie ausgearbeitet und abgesegnet.
Wow.
Im Grunde ließ ja der Ablauf in der entsprechenden Nacht auch keinen anderen Schluss zu, als dass die Bundeswehr gezielt Afghanen töten wollte. Aber wenn ich das nun so schwarz auf weiß lese – nennt mich naiv, aber bisher dachte ich, die Bundeswehr hält sich aus sowas raus. Dieser Luftschlag passt auch nicht ins Bild einer „Aufbaumission“.
Damit bekommt diese Nacht vom 3. auf den 4. September eine ganz neue Dimension. Bisher hieß es ja, die Getöteten seien halt bedauerlicherweise Opfer des Angriffs geworden, weil man die Tanklaster zerstören wollte, die zu rollenden Bomben umfunktioniert werden sollten. Jetzt wird aber klar, dass der Angriff Teil einer neuen, härteren Gangart ist, dass die Exekution der Menschen Absicht war.
Vor diesem Hintergrund werden auch die Handlungen von Oberst Klein zumindest militärisch nachvollziehbar. Ihm blieb in der Nacht gar nichts anderes übrig, als den close air support anzulügen, es bestehe Feindkontakt und es gäbe eine unmittelbare Bedrohung. Die Bundeswehr hat nur Schützenpanzer und Tornadoaufklärer vor Ort, hat also für solche Art von Luftschlag gar nicht Ausrüstung in Afghanistan.
Immer interessanter wird jetzt die Frage „Wer wusste wann was?“. Durch den Bericht von Klein vom 6. September, spätestens aber seit dem ComISAF-Bericht vom 28. Oktober der Bundesregierung klar, was bzw. eben wer das Ziel des Angriff war: eine Gruppe Taliban, darunter offenbar 4 Anführer. Die Bundesregierung wusste das (oder zumindest: musste das wissen), hat aber weiterhin die Darstellung aufrecht erhalten, nach der die Tanklaster das Ziel waren. Überrascht dürfte in der Regierung eh niemand gewesen sein, wenn die Sache mit der Eskalationsstrategie stimmt.
Interessantes Detail am Rande: die Fraktionsvorsitzenden hatten seit November Einsicht in den ComISAF-Bericht. Überrascht über die jetzt bekannt gewordenen Details über die wahre Absicht des Bombardements dürfte man auch dort nicht sein.
Mal gucken, ob der Untersuchungsausschuss Licht ins Dunkel bringen kann und ob sich insbesondere die Eskalationsstrategie beweisen lässt. Spätestens dann wäre eine Debatte nötig, was die Bundeswehr in Afghanistan tun soll (kämpfen vs. aufbauen) und was die Bundesrepublik dort eigentlich will. Wollen wir dort mit allen Mitteln des Krieges Taliban jagen oder wollen wir wirklich Aufbauhilfe leisten? Sind präventive Luftschläge ok, auch wenn keine konkrete Gefahr besteht sondern nur irgendwann mal von diesen Menschen ausgehen könnte?
Was wusste eigentlich Kanzlerin Merkel? Ich kann mir nicht vorstellen, dass 140 Menschen in Afghanistan sterben und Frau Merkel geht zur Tagesordnung über. Und was wusste der damalige Außenminister Steinmeier? Das Auswärtige Amt ist formal federführend bei Auslandsmandaten.
Das andere mögliche Ergebnis des Untersuchungsausschusses: man tut seitens der Bundesregierung den Luftschlag als Überreaktion von Oberst Klein ab und bemüht sich weiter um die Aufrechterhaltung des Bildes der Bundeswehr als bewaffnetes THW.
Pingback: “Eine mörderische Entscheidung” | Reflexionsschicht