Ich weiß, ich bin ein bisschen spät dran mit einer Meinung zur Hartz-IV-Debatte und Westerwelles Gegeifer. Zu seinem Artikel in der „Welt“ ist eigentlich alles gesagt. Natürlich ist Sozialstaat kein „Sozialismus“, Hartz IV kein „Wohlstand“ sondern eben nur Grundversorgung und sein Bild von der „spätrömischen Dekadenz“ ist schief bis zum gehtnichtmehr. Dekadenz ist dem Grunde nach ein Verhalten einer kleinen, abgehobenen Oberschicht.
Was aber in der Debatte in meinen Augen ein bisschen untergeht sind 2 Dinge: sinkende Reallöhne in den letzten Jahren und der Selbstbetrug Vollbeschäftigung.
Westerwelle hat in einem Punkt recht: wer arbeitet muss mehr verdienen als derjenige, der das nicht tut. Damit sagt er etwas sehr offensichtliches und spricht diese Wahrheit leider nicht sehr gelassen aus. Es geht dann immer um das sog. Lohnabstandsgebot. Man kann nun versuchen, diesen Lohnabstand wieder herzustellen, indem man Sozialleistungen kürzt. Dann ist kurzfristig Arbeit wieder lohnender. Die Sache hat aber zwei Haken: einerseits kann man nicht beliebig kürzen (spätestens nicht mehr seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts) und andererseits werden die Löhne weiter fallen, weil ja auch für weniger Geld immer noch Leute zu arbeiten bereit sind. Somit dreht sich die Spirale nur ein Stück weiter nach unten und nach 1-2 Jahren hätten wir die gleiche Situation – nur eine Einkommensetage tiefer. Über eine Absenkung der Sozialleistungen bzw. Hartz IV kriegt man das Problem Lohnabstand also nicht in den Griff.
Sinkende Reallöhne und Ausdehnung des Niedriglohnsektors
Das Problem des fehlenden Lohnabstands ist aber kein Phantom, sondern Realität und hat sich deshalb so verschärft, weil in den letzten Jahren politisch gewollt und forciert der Niedriglohnsektor ausgebaut wurde und Lohnsteigerungen als Teufelswerk verschrien waren (und immer noch sind). Und tatsächlich sind die Reallöhne in den letzen Jahren entgegen der Tendenz in Europa in Deutschland gesunken. Noch schlimmer sieht das Bild aus, guckt man die Lohnentwicklung nach Einkommensgruppen gestaffelt an: das untere Einkommensviertel – die Niedriglöhner – haben zwischen 1995 und 2006 fast 14% verloren.
Das kommt dabei raus, wenn man einen flexiblen Arbeitsmarkt mit einem Niedriglohnsektor schafft. Dann geht er dahin, der Lohnabstand. Dass nun ausgerechnet Westerwelle dieses Ergebnis einer Arbeitsmarktpolitik in seinem Sinne beweint ist gaga.
Und wer sich über jeden niedrigen Tarifabschluss freut, der gerademal einen Inflationsausgleich bringt, der soll andererseits nicht fordern, dass sich Arbeit wieder lohnen muss. Das Gejammere über Lohnerhöhungen ist dabei immer gleich groß, egal ob es wirtschaftlich läuft oder nicht, Lohnzurückhaltung war das Mantra der letzten Jahre. Geht es nach den Arbeitgebern und den medial präsenten Wirtschaftwissenschaftlern, ist es nie eine gute Zeit für höhere Löhne: erst darf das zarte Pflänzchen Aufschwung nicht zertrampelt werden, dann will man den Aufschwung nicht abwürgen, dann kommt schon wieder der Abschwung, wo es nun überhaupt nicht geht. So geht das nun schon ein paar Jahre.
Millionen fehlender Arbeitsplätze
Die nächste Sache: Hartz IV mit seinen ganzen Sanktionen geht eigentlich davon aus, dass für jeden eine bezahlte Arbeit auf dem Arbeitsmarkt vorhanden ist. Und auch in der ganzen Debatte gehen wir stillschweigend davon aus, dass dem so ist. Das ist natürlich großer Quatsch.
Wir liegen im Moment bei etwa 3,5 Mio. offiziellen Arbeitslosen und etwa 270.000 gemeldeten offenen Stellen. Viele Stellen werden nicht der Bundesagentur gemeldet und so dürfte die tatsächliche Zahl (PDF)irgendwo bei einer halben Million liegen. Schon mit diesen Zahlen ergibt sich dann eine Diskrepanz zwischen Soll und Haben von 3 Millionen. Sieht man dann noch, wieviele Menschen aber tatsächlich arbeitslos bzw. arbeitssuchend sind, verdoppelt sich die Differenz schnell mal auf 6 Mio. Insofern lenkt das Rumgehacke auf den Arbeitslosen vom eigentlichen Problem ab: nicht die paar tausend Arbeitsunwilligen sind das Problem, sondern die Millionen fehlenden Arbeitsplätze.
Diese Millionen Arbeitslosen drücken das Lohnniveau, weil sich somit immer Leute finden lassen, die für niedrige Löhne arbeiten (müssen) und die Sanktionsmechanismen von Hartz IV sorgen dafür, dass man diese Lohndrückerei mitmachen muss.
Wie könnte eine Lösung aussehen? Einerseits hat der Mindestlohn seinen Reiz und wäre schnell per Gesetz umzusetzen. 8,50 € pro Stunde, also etwa 1400 € brutto im Monat, wären für viele im Niedriglohnsektor eine schnelle und effektive Lohnsteigerung.
Andererseits hat ein bedingungsloses Grundeinkommen ganzheitlich gesehen den größeren Reiz. Der nötige Lohnabstand würde sich dann automatisch einstellen, weil ein echter Arbeitsmarkt entstehen würde: die potentiellen Arbeitnehmer hätten nämlich die reale Möglichkeit, niedrigbezahlte Arbeit abzulehnen. Damit hätten die Arbeitnehmer eine Marktmacht. Muss die Arbeit trotzdem gemacht werden, müssen die Löhne entsprechend höher sein als das Grundeinkommen. Ein erhöhter Hartz IV-Satz ohne Sanktionen wäre ein ziemlich einfach umzusetzendes Grundeinkommen.